„Historische Entscheidung“: Werden die Impfstoffe jetzt gerechter verteilt?
Washington/Brüssel –
Impfstoffe gegen das Coronavirus sind weltweit ungleich verteilt. Die Gründe sind vielschichtig, aber ein wichtiger war bislang: das Beharren von Pharmafirmen und reichen Staaten auf dem Patentschutz für die Vakzine, die in ebenjenen Staaten entwickelt wurden. Und die dem globalen Süden zu teuer sind und die sich der Norden unter den Nagel gerissen hat. Nun plötzlich die Kehrtwende: Die USA sprechen sich für die temporäre Aufhebung des Patentschutzes aus, auch die EU will darüber sprechen. Die Wende in der globalen Pandemie-Bekämpfung? Oder Symbolpolitik?
„Diese Impfung wird unser globales Gemeingut sein“, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 24. April 2020 gesagt. „In alle Ecken der Welt“ werde Impfstoff verteilt werden, und zwar „zu bezahlbaren Preisen“. Die Realität ein Jahr später: 40 Prozent einmal Geimpfte in den USA, etwa 25 Prozent in der EU, rund zwei Prozent auf dem afrikanischen Kontinent.Mit diesem Doppelschlag hätte daher kaum jemand noch gerechnet: Die USA sprachen sich am Mittwoch für ein Aussetzen der Patentrechte bei Corona-Impfstoffen aus. Tags drauf zeigte sich die EU bereit, ebenfalls darüber zu debattieren.
Fast ein Jahr lang hatten sich beide beharrlich geweigert, auch nur darüber nachzudenken. Ganze acht Mal schon hat die EU etwa dieses Anliegen bei der Welthandelsorganisation (WTO) abgeschmettert, zuletzt im März.Gefordert hatten die Aufweichung über 100 arme Länder, federführend dabei Südafrika und Indien. Bislang überwog bei den bremsenden reichen Staaten das Argument: Ein Aussetzen des Patentschutzes würde die medizinische Forschung beschädigen. Denn nur die Gewähr, dass mit Medikamenten und Impfstoffen auch Geld verdient werden kann, locke die wichtigen privaten Investoren. Linke Parteien im EU-Parlament und der linke Flügel der Demokraten sowie NGOs wie „Ärzte ohne Grenzen“ hingegen forderten ebenfalls: Temporäre Aufhebung sofort!
Kehrtwende nach Monaten der Blockade
Nach Monaten der Blockade verkündete nun die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai die Kehrtwende. Ziel der Aussetzung der Patente sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“. Anderntags zog die EU nach: „Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht“, sagte von der Leyen.
WHO nennt die Entscheidung „historisch“
Allerdings schränkte sie auch ein: Man müsse sehen, wie der US-Vorschlag diesem Ziel dienen könne. „Kurzfristig rufen wir jedoch alle Länder mit Impfstoffproduktion auf, Exporte zu erlauben und alles zu vermeiden, was Lieferketten stören könnte“, so von der Leyen. Während die EU zumindest 200 Millionen Dosen exportiert hat, haben sich Großbritannien und die USA damit bisher nicht hervorgetan. Im Gegenteil: Die USA etwa haben wichtige Rohstoffe teils mit Export-Stopps versehen, was zu Engpässen etwa im gebeutelten Indien geführt hat.
Die Reaktionen auf den US-Vorstoß in Politik und Gesellschaft fielen unterschiedlich aus. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach von einer „historischen Entscheidung“.In Deutschland begrüßten vor allem Linke und Grüne die Idee. Robert Habeck etwa sagte dem „Spiegel“: „Deutschland und die EU sollten sich den USA anschließen.“
Arzneimittelhersteller kritisiert die Entscheidung
Doch es gab auch heftige Kritik. Der Präsident des Verbands forschender Arzneimittelhersteller, Han Steutel, etwa warnte: „Zur Überwindung der Pandemie bringen Patentfreigaben gar nichts.“ Niemand könne eine Produktion in weniger als sechs Monaten hochziehen. Und im kommenden Jahr gebe es ohnehin genug Impfstoff. Es handle sich um reine „Symbolpolitik“. Zudem würden Investoren nun sicher abspringen. Und tatsächlich: Auch an den Aktienmärkten zeigte sich sofort Verunsicherung, Curevac brach um zehn Prozent ein, Biontech gar um fast ein Fünftel. AstraZeneca hingegen, die im Übrigen auch schon länger Lizenzen gebührenfrei etwa nach Indien vergeben haben, legten sogar zu. Sie hatten schon zu Beginn der Pandemie angekündigt, keine Profite mit ihrem Vakzin machen zu wollen, bieten es daher zu günstigen Preisen an.
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Sowohl die EU-Chefs als auch die WTO wollen dieser Tage über das Thema debattieren. Laut einem WTO-Sprecher habe es zuletzt „sehr konstruktive Gespräche“ mit Indien und Südafrika gegeben, die ihren Vorschlag noch einmal überarbeiten wollten. WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala zeigte sich überzeugt: „Wir werden einen pragmatischen und für alle Seiten akzeptablen Weg finden.“