Kirche und Staat verantwortlich: 9000 Kinder in irischen Mutter-Kind-Heimen gestorben
Dublin –
Mit einem Massengrab fing es an. Hunderte Kinderleichen wurden dort entdeckt – Opfer eines rigiden Regiments in irischen Heimen. Nun legt ein Bericht den jahrzehntelangen Horror in diesen Einrichtungen offen. Doch Überlebende sind nicht zufrieden. Im Gegenteil.
Für Zehntausende Frauen und ihre Kinder in Irland muss es der blanke Horror gewesen sein. Missbrauch, Kälte, Gefühllosigkeit: Jahrzehntelang waren die unverheirateten, oft jungen Frauen einem rigiden Regiment in Mutter-Kind-Heimen unterworfen, staatlich kontrolliert und von religiösen Organisationen geleitet.
Irland: Frauen und Kinder in Heimen gequält
Ein unabhängiger Bericht brachte nun hervor, dass zwischen 1922 und 1998 in den untersuchten Einrichtungen etwa 9000 Babys und Kinder starben – „etwa 15 Prozent aller Kinder, die in den Heimen waren“. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die lange Zeit stark religiös geprägte, konservative Gesellschaft in Irland.
„Es ist ein entscheidender Moment“, wurde die heute 70-jährige Anne Harris in Medien zitiert. Sie brachte 1970 in einem Heim ihren Sohn zur Welt. „Die irische Gesellschaft war ziemlich starr und abschätzig gegenüber unehelichen Kindern. In diesen riesigen Institutionen wurden Frauen einfach außer Sichtweite gebracht.“
Außereheliche Beziehungen waren verpönt, die Frauen wurden von den eigenen Familien verstoßen, selbst wenn es sich um Vergewaltigungsopfer handelte. „Staat und Kirche haben diese harte Einstellung unterstützt, dazu beigetragen und sie geduldet“, stellte der Bericht fest.
Mutter-Kind-Heime: Unhygienische Bedingungen, grobe Behandlung
Etwa 56.000 unverheiratete Frauen mit 57.000 Kindern lebten Schätzungen zufolge insgesamt in den Mutter-Kind-Heimen. Der Großteil der betroffenen Frauen war mittellos, für viele blieben die Einrichtungen die letzte Zuflucht. Doch der Umgangston dort war rau, die Behandlung grob, die Zustände waren unhygienisch. Schlafsäle waren überfüllt, die Verpflegung war schlecht, medizinische und Schulangebote gab es kaum, die Aufseherinnen, oft Nonnen, waren unausgebildet. Als Hauptursachen der Kindstode wurden Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Entzündungen festgestellt.
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„Vor 1960 retteten die Mutter-Kind-Heime nicht die Leben unehelicher Kinder; tatsächlich scheinen sie ihre Überlebenschancen erheblich verringert zu haben“, schreiben die Autoren. Mehr noch: Die hohe Sterblichkeitsrate war den Behörden bekannt.
In alten Berichten der Gesundheitsbehörden finden sich konkrete Anschuldigungen. „Die verantwortliche Nonne ist dumm und ignorant (…) Sie muss sofort von ihrem Posten entfernt werden“, schrieb ein Arzt schon vor Jahrzehnten. Doch die Behörden beendeten das Martyrium nicht.
Regierungschef entschuldigt sich bei Überlebenden
Regierungschef Micheal Martin entschuldigte sich nun öffentlich für das Leid. Verantwortlich sei die Kirche, die den „perversen Moralkodex“ überwacht habe. Aber auch der Staat habe versagt. „Ich möchte betonen, dass jede von Ihnen wegen des Unrechts Anderer in einer Einrichtung war“, sagte Martin am Mittwoch im Parlament in Dublin an die Opfer gewandt. „Der Staat hat Sie, Mütter und Kinder in diesen Heimen, im Stich gelassen.“ Die Opfer sollen nun Entschädigung erhalten – auch die Kirche müsse sich beteiligen, forderte Martin.
Für das Image der katholischen Kirche ist der Fall ein weiterer Schlag. Sie steht wegen über Jahrzehnte verschwiegenem schweren Missbrauchs in Heimen auch in Deutschland stark in der Kritik. Irische Kirchenvertreter zeigten sich reumütig. Der Erzbischof der westirischen Stadt Tuam, wo ein Heim existiert hatte, nannte den Bericht „einen Grund zur Schande“. „Die Kirche Jesu Christi sollte Hoffnung und Heilung bringen, doch sie brachte vielen dieser Frauen und Kinder Schaden und Schmerz“, sagte Michael Neary. Die Kirche habe versagt. Auch zwei Nonnenorden, die Einrichtungen geleitet hatten, entschuldigten sich.
Die Aufarbeitung eines der schwärzesten Kapitel in der Geschichte des Landes, wie Martin den Skandal nannte, ist ein weiterer Hinweis auf den Wandel in Irland. So sind in dem EU-Land mittlerweile Abtreibungen und homosexuelle Ehen erlaubt, die Blasphemieklausel wurde aus der Verfassung gestrichen – Schritte, die noch vor wenigen Jahren aufgrund der tiefen Verwurzelung der katholischen Kirche in der Gesellschaft für unvorstellbar gehalten wurden.
Opfer und Angehörige unzufrieden
Dennoch zeigten sich Opfer und Angehörige unzufrieden. „Der Bericht bestätigt nicht, dass es Missbrauch gab, und erkennt nicht an, dass es erzwungene Adoptionen gab“, kritisierte Niall Boylan, der in einem Heim in Dublin geboren wurde. „Das ist lächerlich.“
Paul Redmond, der in einem Heim in Castlepollard aufwuchs, forderte die Regierung zu Taten auf. Die Überlebenden würden älter und sterben, sagte er dem Sender RTÉ. Je länger die Regierung mit Konsequenzen warte, desto größer sei die Gefahr, dass die Betroffenen keine Hilfe erführen, „die ihre Lebensqualität verbessert“, sagte Redmond. Die Gräber vieler Kinder sind nach wie vor unbekannt. (dpa)