Bizarrer TikTok-Trend löst Massenhysterie aus
Sie zucken bizarr zusammen, fluchen oder machen obszöne Gesten: In den sozialen Medien trenden immer mehr Videos mit Tics, die denen des Tourette-Syndroms ähneln. Und plötzlich häufen sich Tourette-ähnliche Fälle bei Jugendlichen. Haben sie sich etwa durch TikTok „infiziert“?
Für viele Betroffene ist Tourette eine Qual: Durch die wohl angeborene Erkrankung des Nervensystems können sie motorische oder vokale Störungen, sogenannte Tics, nicht kontrollieren. Ähnlich wie bei Schluckauf müssen sie zum Beispiel zucken oder sich räuspern. Schätzungen zufolge leiden weltweit zwischen 0,5 und einem Prozent der Menschen an der Krankheit.
Doch seit zwei bis drei Jahren verzeichnen Ärzte etwa aus den USA, Großbritannien oder Deutschland eine Häufung der Fälle. Hier seien oft Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren betroffen, erklärt die Neurologin und Psychiaterin Kirsten Müller-Vahl von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) im Interview mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Bewegungsstörungen. Seit 25 Jahren leitet die Expertin die Tourette-Sprechstunde der MHH. Und sie meint: Echtes Tourette sind diese neuen Fälle nicht.
Simulieren die Jugendlichen das Tourette-Syndrom?
Denn im Gegensatz zum Tourette-Syndrom, das sich meist im Kindesalter entwickelt, kamen die Tics der Jugendlichen plötzlich und waren sofort stark ausgeprägt. Und besonders oft rufen sie Beleidigungen oder Beschimpfungen aus – dabei passiert das beim echten Tourette nur selten.
Simulieren die neuen Patient:innen also einfach? Das glaubt die Expertin nicht: Es sei unbewusst, erklärt sie. Die Jugendlichen leiden darunter, einige von ihnen seien sogar von anderen Ärzten mit Tourette fehldiagnostiziert worden und hätten Behandlungen begonnen. Ihrer Einschätzung nach handelt es sich um eine funktionelle Störung – ausgelöst durch eine „Massenhysterie“ über das Internet. 50 Betroffene kennt die Expertin. MSMI hat sie das Phänomen genannt: „mass social media induced illness” – Eine Massenerkrankung verursacht durch die Sozialen Medien.
Denn da gehen Videos mit Tourette-Tics viral. In Deutschland ist der YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf“ mit seinen mehr als 2,2 Millionen Followern wohl der bekannteste. Weltweit lösten aber vor allem „Tourette-Videos“ auf TikTok einen Hype aus: Teils mit blinkenden Filtern präsentieren Jugendliche extreme Tics und beweisen sich in sogenannten Challenges (Herausforderungen) – beispielsweise indem sie versuchen, ein Ei in der Hand zu halten, ohne es durch eine Zuckung kaputt zu machen. Der Hashtag „#tourette“ wurde millionenfach geteilt. Dem englischsprachigen Kanal „thistrippyhoppie“ etwa folgen 13,9 Millionen Menschen. Ob tatsächlich alle der Videomacher an Tourette leiden, ist unklar.
Das könnte Sie auch interessieren: Mozart in krass: Hamburg hat jetzt eine TikTok-Oper
Aus diesen Videos scheinen die neuen Patient:innen die Tics übernommen zu haben. Ihre Fälle in Deutschland etwa alle vom Kanal „Gewitter im Kopf”, meint Müller-Vahl. Die ihr bekannten Patient:innen litten zugleich auch an anderen Krankheiten wie Angststörungen oder Depressionen. Die gute Nachricht: Da funktionellen Störungen eine psychische Ursache haben, können sie mit einer Psychotherapie geheilt werden. Die „Tourette-Videos” sollten die Betroffenen allerdings nicht mehr gucken.