Die falsche Charme-Offensive der Taliban
„Wir sind doch gar nicht böse“ – diese Botschaft wollen die Taliban vermitteln, seit sie Afghanistan wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die bewaffneten Männer mit den langen Bärten geben sich auffällig mild. Zumindest in der Hauptstadt Kabul. Was erwartet die Menschen jetzt im Alltag? Gibt es wirklich Hoffnung, dass das neue alte Regime weniger grausam und extremistisch ist als früher?
Was in Afghanistan passiert, sei „eine Zäsur, die wir erleben, die alles ergreift und betrifft – vom individuell Menschlichen bis zur Weltlage“, so CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen gestern. Unmittelbar und direkt betrifft sie die 38 Millionen Afghaninnen und Afghanen, die jetzt mit und unter der Herrschaft der Islamisten leben. Oder sterben müssen.
Taliban-Experte: Zusagen sind vage
Doch von Hinrichtungen, Folter und Unterdrückung ist offiziell (noch) keine Rede. Im Gegenteil: Frauen wollen die Terror-Kämpfer sogar die Angst nehmen: „Das Islamische Emirat Afghanistan will nicht, dass Frauen weiterhin Opfer sind“, verkündete Enamullah Samangani, ein Mitglied der Kulturkommission, im staatlichen Fernsehen. „Im Rahmen des islamischen Rechts und unter Wahrung der nationalen und afghanischen Werte sind wir bereit, die Voraussetzungen für die Rückkehr der Frauen zu Studium, Arbeit und allen menschlichen Tätigkeiten zu schaffen.“
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Mädchen dürften weiter zur Schule gehen – auch die über Zwölfjährigen. Von Zwangsverheiratung keine Rede. Und: Es wurde eine angebliche „Generalamnestie“ für alle ehemaligen Regierungsbeamten ausgerufen. Rache an Ortskräften werde es nicht geben.
Kann man das glauben? Nein, da sind sich so ziemlich alle Experten einig. Michael Kugelman, stellvertretender Direktor für das Asienprogramm am US-Wilson-Forschungszentrum, sagte dem Bayerischen Rundfunk: „Die Taliban sagen immer: In ihrem Regime geht alles, solange es sich mit dem islamischen Recht vereinbaren lässt. Das ist so vage und lässt sich in alle Richtungen hin interpretieren.“
Erschreckend: Berichte über Taliban außerhalb Kabuls
Kugelman sieht keinen Grund, „dass wir optimistisch sein können, dass die Taliban wirklich so viel anders regieren werden, als sie es Ende der Neunziger gemacht haben“. Das bedeutet: Angst, Unterdrückung, Folter, Tod.
Und tatsächlich: Während in Kabul noch sanft und freundlich getan wird, zeigen die Islamisten in anderen Gegenden des Landes bereits ein anderes – womöglich ihr wahres – Gesicht: Auf Twitter gibt es ein Video aus Kandahar, auf dem man mehrere Leichen am Straßenrand sieht. Autos und Motorräder kurven um die toten Körper herum. Die Männer sollen politische Gegner sein, die von den Taliban auf offener Straße exekutiert wurden.
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Dem „Spiegel“ berichtet eine Frau aus einem Dorf im Norden, was die Taliban dort von Familien verlangen: Wo zwei über 15-jährige Mädchen unter einem Dach lebten, müsse eins der Mädchen einen von ihnen heiraten. „Sie sind wie Tiere“, sagt die Frau. Aus anderen Orten gibt es Berichte, geschnappte Diebe seien geteert worden – und froh darüber, denn normalerweise droht Menschen, die von den Taliban beim Klauen erwischt werden, das Abhacken der Hand.
Bundesregierung: Gespräche mit Taliban notwendig
Die EU, die USA, Großbritannien und weitere Staaten haben gestern in einem offiziellen Statement auf die Einhaltung von Menschenrechten gepocht. „Afghanische Frauen und Mädchen verdienen es wie alle Afghanen in Sicherheit, Geborgenheit und Würde zu leben“, heißt es darin. Ob es die Taliban interessiert?
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Allerdings sucht die Bundesregierung auch aktiv den Kontakt zu den Taliban, um die Ausreise von Ortskräften zu ermöglichen. Botschafter Markus Potzel ist im Emirat Katar, um mit den Islamisten zu verhandeln. Es ist bitter, aber Fakt: „Die Taliban sind jetzt die Machthaber im Land“, brachte es Norbert Röttgen auf den Punkt. „Alles, was dort stattfindet, findet statt, weil die Taliban es noch dulden. Und nur, sofern die Taliban es dulden.“