• Überflieger Nesar Ahmad mit seinem Abi-Zeugnis.
  • Foto: Ewald Hülk

Erst fast abgeschoben, jetzt Mega-Abi: Nesar aus Afghanistan bekommt Traumnote 0,8

Geldern –

„Das Bild des faulen Migranten muss aus den Köpfen“: Das sagt Nesar Ahmad Aliyar, der selbst vor fünf Jahren als Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland kam. Und er hat jede Berechtigung dazu, denn der Achtzehnjährige hat nun sein Abitur mit einem Durchschnitt absolviert, der so gut ist, dass es ihn offiziell gar nicht gibt: 0,8. Und das, obwohl Nesar noch kein Wort Deutsch sprach, als er vor fünf Jahren her kam.

„In Afghanistan habe ich nur Einsen geschrieben“, berichtet der achtzehnjährige Abiturient Nesar dem „Focus“. Als er dann nach Deutschland kam, musste er sich jedoch plötzlich mit einer völlig neuen Situation arrangieren: Er verstand „nur noch Bahnhof“ und war plötzlich nicht mehr Klassenbester.

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Überflieger Nesar Ahmad mit seinem Abi-Zeugnis.

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Ewald Hülk

Die fachlichen Anforderungen waren dabei nicht das Problem – ohne große Mühe zeichnete Nesar zum Beispiel in Chemie komplexe Strukturformeln an die Tafel. Aber die sprachliche Barriere machte es ihm kaum möglich, sich richtig zu artikulieren.

Nordrhein-Westfalen: Flüchtling erreicht Mega-Abischnitt

Doch aufgeben kam für Nesar nicht infrage. „Ich wollte wieder die Eins erreichen – koste es, was es wolle“, so der ehrgeizige junge Mann zum „Focus“. Also fing er an zu lesen. Zuerst Kinderbücher, dann einfache Romane, schließlich Sachbücher. Am liebsten zu medizinischen Themen.

2017 hält der junge Flüchtling dann sein Realschulzeugnis in den Händen – als Jahrgangsbester mit einer Durchschnittsnote von 1,2. Doch er will noch höher hinaus: Zuerst das Abitur, dann ein Medizinstudium absolvieren und schließlich Kardiologe werden – am liebsten an der Berliner Charité.

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Die Charite in Berlin: Hier möchte der ehrgeizige Afghane Nesar (18) Kardiologe werden.

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Doch dann kommt zunächst alles anders, Nesar erhält einen Behördenbrief, der sich anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht. Nesars Antrag auf Asyl wird abgelehnt. Ihm droht die Abschiebung in seine alte Heimat. In ein Land, mit dem er Erinnerungen an zerfetzte Autos von Selbstmordattentätern und an schreiende und weinende Menschen auf den Straßen verbindet. Und den Tod von Mutter und Schwester.

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Für den jungen Afghanen ist klar: Dahin will er nicht zurück. Er legt Widerspruch gegen den Bescheid ein. „Bei der Anhörung hatte ich mein Realschulzeugnis dabei. Ich habe den Leuten erzählt, dass ich Sprachkurse gemacht habe, dass ich der beste Schüler in meiner Klasse bin und gerne Medizin studieren würde. Sie haben mir dann gesagt: Das interessiert uns alles nicht. Das war mein persönlicher Tiefpunkt“, erinnert sich Nesar. 

„Ich weiß nicht, was Deutschland von uns Migranten eigentlich will“

Doch entmutigen lässt er sich nicht. Er reicht mithilfe einer Anwältin Klage ein und hat zumindest einen Teilerfolg, als er eine befristete Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erhält. Den Titel muss er immer wieder verlängern lassen.

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Krieg, Explosionen, ständige Unruhen: In dieses Land möchte Nesar nicht zurück.

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„Das ist schon Stress und eine gewisse Angst ist immer dabei“, berichtet der Achtzehnjährige und ärgert sich: „Ich frage mich manchmal, was Deutschland von uns Migranten eigentlich will: Wenn wir uns nicht integrieren und auf Kosten der Allgemeinheit leben, sollen wir Deutschland verlassen. Und wenn wir unser Bestes geben, lernen und uns eingliedern, dann interessiert sich keiner dafür.“

Abi-Note 0,8: Flüchtling Nesar schafft, was bisher keiner geschafft hat

Nesar gibt trotzdem weiterhin sein Bestes und hält nun sein Abitur mit der Mega-Note 0,8 in den Händen. Nie zuvor hat ein Schüler an seinem Berufskolleg, der katholischen Liebfrauenschule im nordrhein-westfälischen Geldern, diesen Wahnsinns-Schnitt erreicht.

Sein Vater, der schon einige Jahre vor dem Abiturienten nach Deutschland kam, hat noch immer keine Aufenthaltserlaubnis und darf deshalb auch nicht als Lehrer arbeiten, wie er es in Afghanistan getan hat. Nicht einmal Sprachkurse darf er belegen. „Es geht vielen so – und dieser Zustand macht die Menschen krank und depressiv“, sagt Nesar. 

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Mit seinem Erfolg will er zeigen, dass Migranten es in Deutschland zu etwas bringen wollen und können und Integration funktioniert. „Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland zu oft das Bild des faulen Migranten propagiert wird. Von der Mehrheit der Muslime, die hier einfach nur in Frieden und Offenheit leben wollen, reden wir zu wenig.“

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