Das Dilemma der Meinungsforscher: Deshalb liegen Prognosen oft daneben
Olaf Scholz (SPD) im Höhenflug hier, die Union im historischen Tief da – in der Berichterstattung über die Bundestagswahl wird mit Umfragewerten regelrecht um sich geschmissen. Kein Wunder – zu verlockend ist es, das Wahlergebnis schon heute zu erahnen. Doch wie aussagekräftig sind Wahlumfragen eigentlich und was sollte man dazu wissen? Die MOPO hat mit den Wahlforschern Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim und Kamil Marcinkiewicz von der Uni Hamburg gesprochen.
Umfrage, Projektion, Prognose: Was ist der Unterschied?
Bei einer Umfrage werden Menschen nach ihrer derzeitigen politischen Meinung gefragt. Die Sonntagsfrage etwa („Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“) wird bei fast allen Forschungsinstituten aber als eine Projektion veröffentlicht: Hierfür wird die Umfrage zur politischen Stimmung mit anderen Angaben kombiniert, etwa mit langfristigen Überzeugungen oder taktischen Wahlüberlegungen. So wird versucht, einem Wahlergebnis möglichst nahezukommen – wenn denn an diesem Sonntag die Wahl wäre. Aber: Weder Meinungsumfragen noch Projektionen sagen das Wahlergebnis vom 26. September voraus. Sie sind Momentaufnahmen.
Das könnte Sie auch interessieren: Briefwahl in Hamburg: So klappt es mit Wahlschein und Fristen
Die Wahlprognose dagegen wird nach dem Schließen der Wahllokale um 18 Uhr veröffentlicht – sie basiert auf den Angaben, die Wähler beim Verlassen des Wahllokales gemacht haben. Weil es dieses Jahr voraussichtlich viele Briefwähler geben wird, wird diese Wahlprognose wohl ungenauer sein.
Wer macht die Wahlumfragen?
Wahlumfragen und -projektionen werden von Meinungsforschungsinstitut gemacht – etwa im Auftrag von Medienhäusern. Zu den bekanntesten Instituten, die auch die Sonntagsfrage behandeln, zählen „Insa“, „Allensbach“, „Forsa“, Infratest dimap“ und die „Forschungsgruppe Wahlen“, die das ZDF-Politbarometer betreut. Auch das international tätige Institut „YouGov“, das überwiegend Internet-Umfragen macht, und „Kanta“ stellen Ergebnisse für die Sonntagsfrage bereit.
Forschungsinstitute geraten auch immer wieder in Kritik: Das Institut „Insa“ wurde als AfD-nah kritisiert, „Forsa“ tendenziöse Fragestellungen nachgesagt. Online-Umfragen des Institutes „Civey“ sehen Kritiker als nicht repräsentativ.
Wann ist eine Umfrage repräsentativ?
Bei einer repräsentativen Umfrage hat jeder Wahlberechtigte die genau gleiche Chance, befragt zu werden. Die Auswahl erfolgt nach dem Zufallsprinzip. Je größer die Stichprobe ist – also je mehr Menschen befragt werden – desto aussagekräftiger sind Umfragen. Aus Effizienzgründen gelten zwischen 1000 und 1500 Teilnehmer als Mindestwert. In der Praxis ist es aber gar nicht so einfach, jeden Wahlberechtigten gleichermaßen zu erreichen.
Warum nicht?
Zum einen geben immer weniger Menschen Auskunft, manchmal gibt es auch Sprachbarrieren. Zum anderen kann die Wahl des Kommunikationsmittels Bevölkerungsgruppen ausschließen: bei Internetumfragen zum Beispiel die Ältesten, die sich weniger im Internet bewegen. Bei Telefonumfragen kann sich etwa der Zeitpunkt des Anrufs daraus auswirken, wen man erreicht.
Wie gehen die Forschungsinstitute also vor?
Bei Telefonumfragen arbeiten sie meist mit Zufallstelefonnummern, die ein Computer erzeugt, erklärt Brettschneider der MOPO. Ist eine Personengruppe über- oder unterrepräsentiert, wird versucht, es durch eine anschließende Gewichtung entsprechend der tatsächlichen Gesellschaftsstruktur zu korrigieren.
Andere Institute setzen auf Internetumfragen. Dabei gibt es zwei Varianten: Bei der einen nutzen die Institute einen telefonisch rekrutierten Pool von Menschen, deren Alter, Geschlecht und Bildungsstand sie kennen. Diese Personen werden dann online befragt. Die andere Variante ist das sogenannte Online-River-Sampling. Diese Variante sieht Brettschneider aber kritisch: Denn hier wird auf Selbstrekrutierung gesetzt – es macht jeder mit, der gerade möchte. „Es ist, als ob man ein Fischernetz in den fließenden Fluss wirft, und schaut, wer hängenbleibt“, so Brettschneider. Zwar wird auch hier im Nachgang gewichtet. Doch selbst damit könne man diese Umfragen aus wissenschaftlicher Sicht nicht repräsentativ nennen.
Was sind die Schwierigkeiten von Projektionen?
Vor allem der Umgang mit Unentschlossenen, die für eine Simulation des Wahlergebnisses auf die Parteien verteilt werden. Wie das geschehe, sei unterschiedlich, erläutert Brettschneider. Meist werden sie durch begründete Annahmen einer Partei zugerechnet, die sie vermutlich wählen würden – etwa anhand der Frage, welcher sie langfristig zuneigen oder wie sie bisher gewählt haben. Je größer die Gruppe der Unentschlossenen ist, desto unsicherer ist die Projektion.
Ist die Gruppe der Unentschlossenen dieses Jahr besonders groß?
Dass die Parteibindung abnimmt und Deutsche ihre Wahlentscheidung immer später treffen, ist ein langfristiger Trend. Doch dieses Jahr scheint die Gruppe besonders groß. Dadurch, dass Angela Merkel (CDU) nicht erneut antrete, ginge für viele ein Bezugspunkt verloren, so Marcinkiewicz.
Das könnte Sie auch interessieren: Bundestagswahl: Der Wahl-O-Mat ist online – mit neuen Funktionen
Laut Brettschneider gibt es zudem eine deutliche Diskrepanz zwischen der Parteien- und Kandidatenbewertung, die die Entscheidung erschwert: So werde Olaf Scholz von vielen Wählern besser bewertet als die SPD, Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne) hingegen schlechter als ihre Parteien. Welche Bewertung sich letztlich durchsetzt oder ob es sogar in einer geringeren Wahlbeteiligung resultiert, ist unklar.
Beeinflussen Umfragen die Wahlen dann noch?
Darüber wird immer wieder diskutiert. Beim „Mitläufer“-Effekt wird etwa vermutet, dass Menschen für denjenigen stimmen, der in Umfragen vorne liegt. Beim „Underdog“-Effekt für den vermeintlichen Verlierer. Nachgewiesen sei beides nicht, erläutert Brettschneider. „Nur ein Effekt auf taktische Wähler ist belegt“, erklärt er. Sie können durch Umfragen motiviert werden, etwa den favorisierten Koalitionspartner der eigentlich bevorzugten Partei zu wählen, damit er die 5-Prozent-Hürde schafft.
Wie nahe war die Sonntagsfrage 2017 am echten Wahlergebnis?
Bei der vergangenen Bundestagswahl 2017 gab es zwischen dem endgültigen Wahlergebnis und der letzten Sonntagsfrage vor der Wahl eine relativ hohe Übereinstimmung. Die Diskrepanz überstieg nur selten die Abweichungsspanne von zwei bis drei Prozentpunkten in beide Richtungen, die üblich ist. Die größte Überraschung war die Union, die mit 32,9 Prozent im Wahlergebnis schlechter abschnitt als in der letzten Sonntagsfrage, wo sie je nach Institut bei 34 bis 37 Prozent lag. Auch die SPD wurde von vielen Instituten in der Sonntagsfrage etwas stärker gesehen, die AfD ein bisschen schwächer.
Und wie aussagekräftig sind aktuelle Umfragen nun für das Wahlergebnis?
„Überhaupt nicht“, so Brettschneider. „Bis zur Wahl sind es noch zwei Wochen und es gibt noch viel Spielraum.“ Denn: Sie sind eben immer nur Momentaufnahmen.