Das Spiel mit der Angst vor Flüchtlingen
In Afghanistan fliehen Menschen in Todesangst. Und die Union? Scheint sich intern auf einen Satz verständigt zu haben, den alle wie ein Mantra in die Mikros sprechen: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Kluges Wahlkampfmanöver? Unmenschlich? Und: Wie realistisch ist so ein Szenario?
„Habe ich das richtig verstanden“, fragte Ingo Zamperoni den CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet in den „Tagesthemen“. „Da klammern sich verzweifelte Menschen an startende Flugzeuge und Ihre größte Sorge ist, dass sich 2015 hier bei uns nicht wiederholt?“ Nein, das habe er nicht richtig verstanden, so der CDU-Chef.
Klare CDU-Sprachregelung: „Kein 2015 mehr!“
Dabei war die Sprachregelung eindeutig, auf die man sich offenbar geeinigt hatte. Nicht nur Laschet hatte den Satz gesagt, auch CDU-Vize-Chefin Julia Klöckner: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Wortgleich auch CDU-Vize Thomas Strobl. CSU-Chef Markus Söder hatte eine eigene Variante: „Wir wollen keine zweite Situation wie im Jahr 2015 erleben.“
Im Jahr 2015 wurden insgesamt rund 890.000 Schutzsuchende beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstregistriert, die meisten waren Syrerinnen und Syrer. Nach einer Welle der Solidarität war damals bald von einer ganz anderen Welle die Rede, nämlich von der „Flüchtlingswelle“. Oder auch von der „Flüchtlingskrise“.
60 Prozent der Deutschen wollen nicht mehr Flüchtlinge
Klar ist, dass Deutschland sehr gut mit der damaligen Situation und ihren Folgen klargekommen ist. Ebenso klar ist aber auch, dass das nicht alle so sehen. Wahlerfolge für die AfD zeugen von dieser Skepsis. Auch eine von der Diakonie beauftragte Studie aus dem Juni zeigt: Rund 60 Prozent der Deutschen wollen eher keine weiteren Geflüchteten aufnehmen. Nur 25 Prozent sprachen sich explizit dafür aus.
Das bedeutet: Aus wahltaktischen Gründen könnte es klug von der Union sein, kein Merkel’sches „Wir schaffen das!“ in die Republik zu tragen. Sondern den Ängsten Rechnung zu tragen. So dürfte zu erklären sein, dass die Union im Juni geschlossen gegen den Grünen-Antrag gestimmt hatte, die afghanischen „Ortskräfte“ frühzeitig nach Deutschland zu holen. Man wollte für den Wahlkampf-Endspurt partout keine Migrationsdiskussion.
Auch SPD will „aus früheren Fehlern lernen“
Auch die SPD hatte gegen den Antrag gestimmt. Und spricht sich nun für rasche Lösungen für die afghanischen Helfer:innen der Bundeswehr aus. Doch ähnlich wie Laschet & Co. betonte SPD-Parteichef Olaf Scholz, dass man „aus früheren Fehlern lernen“ müsse. Sprich: vor allem Nachbarländern Afghanistans helfen, Geflüchtete zu integrieren.
Daran schließen sich letztlich zwei Fragen an: Erstens: Wie steht es denn mit der Aufnahmebereitschaft der Nachbarländer Afghanistans? Und zweitens: Wie realistisch ist eine Wiederholung des 2015er-Szenarios?
Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schätzt, dass rund 550.000 Afghaninnen und Afghanen seit Jahresbeginn aus ihren Häusern vertrieben wurden. Erster Anlaufschritt für viele: der benachbarte Iran. Schon 1979 nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan wurden dort drei Millionen Menschen aufgenommen, leben dort zum Teil in dritter Generation.
„Mit Realität wenig zu tun“
„Die Erzählung einer großen Flüchtlingsbewegung nach Europa hat mit der Realität nicht viel zu tun“, sagte Shabia Mantoo, Sprecherin des UNHCR, im „Spiegel“. Seit Jahrzehnten wären 90 Prozent der Geflüchteten im Iran und Pakistan geblieben. Vor zwei Monaten begann Iran, „Pufferzonen“ einzurichten, da sie nach dem NATO-Abzug viele Geflüchtete erwarteten. Dort sollen Menschen aus Afghanistan unterkommen, bis sich die Lage im Heimatland wieder beruhigt hat.
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Der Rest der Route nach Westen ist im Vergleich zu 2015 vor allem eins: verschlossen. Die Taliban kontrollieren die Grenzübergänge. Ausländische Botschaften erstellen kaum noch Visa. Die Türkei, einst sowohl Aufnahme- als auch Transitland für Flüchtende aus Syrien, hat klargemacht: Sie nehmen keine weiteren Menschen auf. Griechenland, Ungarn, Kroatien – gehen mit Härte gegen Flüchtende vor. Expert:innen sind sich einig: Derzeit gibt es kaum ein Durchkommen.
Das Mantra von 2015, es scheint tatsächlich vor allem Wahlkampfgeplänkel. Ob mit Erfolg, wird sich zeigen. Hamburg hat indes angekündigt, 200 Menschen aus Afghanistan aufnehmen zu wollen.