Ein Soldat der ukrainischen Armee inspiziert Fragmente eines abgestürzten Flugzeugs in Kiew.
  • Ein Soldat der ukrainischen Armee inspiziert Fragmente eines abgestürzten Flugzeugs in Kiew.
  • Foto: picture alliance/dpa/AP | Vadim Zamirovsky

Krieg am Wendepunkt? Der Kampf um Kiew: Wie die Ukrainer ihre Hauptstadt verteidigen

Nach dem russischen Angriff sieht sich die Ukraine im entscheidenden Kampf um die Hauptstadt Kiew. „Das Schicksal des Landes entscheidet sich gerade jetzt“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht zum Samstag. Die ukrainischen Streitkräfte meldeten am frühen Morgen Gefechte. Doch die Angreifer haben die Stadt nicht einnehmen können. In sozialen Netzwerken machen sich die Menschen gegenseitig Mut.

Es könnte ein Wendepunkt in diesem Krieg sein: Der Kampf um Kiew ist in vollem Gange – und er wird heftiger und länger geführt, als es der russische Präsident Wladimir Putin wohl gedacht hätte. Am Donnerstag hatte Putin die Nachbarn in der Ukraine angegriffen. Bereits am Freitag drangen russische Truppen an den Rand der Hauptstadt Kiew vor, die auch aus der Luft beschossen wurde.

Menschen in Kiew sollen russische Angriffspläne torpedieren

Ukraines Präsident Selenskyj rief seine Landsleute in einer Videobotschaft auf seinem Telegram-Kanal zur Verteidigung von Kiew auf. „Der Feind wird alle seine Kräfte einsetzen, um unseren Widerstand zu brechen“, sagte Selenskyj gegen Mitternacht ukrainischer Zeit. „In dieser Nacht setzen sie zum Sturm auf Kiew an.“

Er rief alle Ukrainer auf, „den Feind wo auch immer möglich aufzuhalten“. Die Bevölkerung sollte alle Markierungen entfernen, die Saboteure an Straßen und Häusern anbringen. „Verbrennt die feindliche Militärtechnik mit allem, was zur Verfügung steht!“

Selenskyj: „Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen. Wir werden unseren Staat verteidigen“

Am frühen Samstagmorgen meldete sich Selenskyj dann erneut persönlich zu Wort. In einem unter anderem auf seinem Twitter-Kanal geteilten Video sagte er laut Übersetzungen der ukrainischen Zeitung „The Kyiv Independent“, es gäbe „viele gefälschte Informationen im Internet, dass ich unsere Armee aufrufe, die Waffen niederzulegen, und dass es eine Evakuierung gibt“. Doch das Gegenteil sei der Fall: „Ich bin hier. Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen. Wir werden unseren Staat verteidigen.“

Ukrainische Armee schlägt Russen-Angriff zurück

In der Nacht waren zunächst vom Stadtrand der ukrainischen Hauptstadt Schüsse und Kämpfe gemeldet worden. Russische Truppen versuchten, das Heizkraftwerk Nr. 6 anzugreifen, teilte das Amt für Behördenkommunikation mit. Die ukrainische Armee verteidigte das Kraftwerk. Auch rund um den Kiewer Zoo gab es heftige Kämpfe, wie Videos im Netz zeigten.

Am frühen Morgen teilte die Armee mit, russische Truppen hätten eine Kaserne der ukrainischen Streitkräfte im Westen von Kiew beschossen. Der Angriff sei zurückgeschlagen worden. Die Kaserne liegt etwa sieben Kilometer vom Zentrum der Millionenstadt entfernt. Fotos zeigten hellen Feuerschein über der Stelle der Kämpfe. Auf Videos, die in sozialen Netzwerken geteilt wurden, waren Explosionen und Schüsse zu hören – auch aus anderen Teilen der Stadt.

Nach Tagesanbruch entspannte sich die Lage zunächst, berichteten Menschen aus der Hauptstadt in sozialen Netzwerken. Viele zeigten sich stolz, dass ihre Stadt dem russischen Angriff standgehalten hat. Der ehemalige Botschafter der Ukraine in Österreich, Olexander Scherba, schrieb auf Twitter: „In Kiew ist die Sonne aufgegangen. Die Schießerei in meiner Nachbarschaft hat aufgehört. Ich kann Vögel hören. Fühlt sich an wie das Ende eines Vampirfilms. Etwas sagt mir, dass diese Nacht wichtig war. Und der Feind wird sich auch an diese Nacht erinnern.“

Scherba teilte zudem ein Video, das nach seinen Angaben aus der vorangegangenen Nacht stammt. Darin ist die ukrainische Nationalhymne, gespielt von einer Trompete, zu hören. Den Schilderungen nach ertönte sie beim „Warten auf die Eindringlinge“.

Für Aufsehen sorgte auch ein Video der ukrainischen Journalistin Anastasiia Lapatina. Es soll zeigen, wie ukrainische Bürger:innen ein russisches Militärfahrzeug mit Molotow-Cocktails attackieren.

Russische Rakete schlägt in Kiewer Wohnhaus ein

Die ukrainischen Streitkräfte hatten schon am Freitag immer wieder Verteidigungserfolge gemeldet, unter anderem den Abschuss eines russischen Militärtransportflugzeugs vom Typ Iljuschin Il-76. Gesicherte Informationen aus der Ukraine sind aber inzwischen immer schwerer verfügbar. Auch viele westliche Journalisten haben die Hauptstadt verlassen.

Aufschluss über die aktuelle Lage geben in sozialen Netzwerken geteilte Videos. Für Entsetzen sorgte unter anderem diese Aufnahme, die ebenfalls aus Kiew stammen soll. Sie zeigt den Angaben nach den Angriff russischer Raketen auf ein mehrstöckiges Wohnhaus.

Hunderttausende Ukrainer sind wohl auf der Flucht vor Putins Angriff

Insgesamt sind nach Einschätzung der Vereinten Nationen Hunderttausende im Land auf der Flucht vor Kämpfen. Tausende erreichten inzwischen EU-Länder wie Polen, die Slowakei, Rumänien und Ungarn. Ukrainische Bürger können ohne Visum in die EU einreisen.

Bundeskanzler Olaf Scholz und die Ministerpräsidenten der Länder sprachen am Freitagabend über den Konflikt und über die mögliche Aufnahme von Menschen aus der Ukraine. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) betonte anschließend auf Twitter, den Ländern und ihren Kommunen komme eine entscheidende Rolle bei der konkreten Hilfe und der Vorbereitung einer möglichen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen zu. „In Deutschland stehen die staatlichen Ebenen in dieser schwierigen Lage eng zusammen“, betonte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz.

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Eine diplomatische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht. Russland erklärte sich zwar bereit für Gespräche. Und ein Sprecher Selenskyjs sagte, die Führung in Kiew sei darüber mit Moskau in Kontakt. „Unmittelbar in diesen Stunden führen die Seiten Konsultationen über Ort und Zeit eines Gesprächsprozesses“, schrieb Sprecher Serhij Nikiforow auf Facebook. Ungarn bot sich als Gastgeber für Friedensgespräche an. Zuvor hatte der Kreml Minsk als möglichen Verhandlungsort genannt, die Ukraine hatte sich für Warschau ausgesprochen.

Doch hatte Putin deutlich gemacht, dass er die ukrainische Führung um Selenskyj stürzen will. Der ukrainische Präsident selbst sieht sich als Feind Nummer eins des russischen Angriffs. So bleibt offen, was Gespräche bringen sollen und wer sie führen würde.

Eine gegen den russischen Angriff gerichtete Resolution im UN-Sicherheitsrat scheiterte wie erwartet am Veto Moskaus. Westliche Diplomaten werteten die Abstimmung am Freitagabend (Ortszeit) dennoch als Erfolg beim Versuch, Russland international zu isolieren. Denn China – sonst enger UN-Partner der Russen – enthielt sich genauso wie Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

EU setzt weitere Sanktionen gegen Putin und Russland ein

Um Druck auf Russland auszuüben, traten in der Nacht auf Samstag die neuen EU-Sanktionen in Kraft. Die Strafmaßnahmen zielen darauf ab, Russland und seiner Wirtschaft erheblichen Schaden zuzufügen. Dafür werden zum Beispiel die Refinanzierungsmöglichkeiten des Staates und von ausgewählten privaten Banken und Unternehmen eingeschränkt. Zudem erlässt die EU Ausfuhrbeschränkungen für strategisch wichtige Güter.

Darüber hinaus setzt die EU Putin und den russischen Außenminister Sergej Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Unklar blieb zunächst allerdings, ob Putin und Lawrow Vermögen in der EU haben, das eingefroren werden könnte. Das Außenministerium in Moskau teilte mit, die beiden hätten keine Konten im Westen. Auch die USA und Großbritannien verhängten Sanktionen gegen Putin und Lawrow.


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Die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Staaten bekräftigten bei einem Sondergipfel am Freitag ihre feste Entschlossenheit zur kollektiven Verteidigung der Alliierten. „Unser Bekenntnis zu Artikel 5 des Vertrags von Washington ist unerschütterlich. Wir stehen zum Schutz und zur Verteidigung aller Verbündeten zusammen“, hieß es in der Abschlusserklärung. „Wir werden tun, was notwendig ist, um jeden Verbündeten und jedes Stück Nato-Gebiet zu beschützen und zu verteidigen“, sagte Generalsekretär Stoltenberg.

Rund um den Globus gingen Demonstranten aus Solidarität auf die Straße. In Berlin ist für Sonntag eine Großdemonstration für den Frieden in der Ukraine geplant. Auch in Russland gibt es Anti-Kriegs-Proteste. Nach Zählung der Bürgerrechtsgruppe OWD-Info waren am Freitag mindestens 560 Menschen in 26 Städten festgenommen worden. (mik/dpa)

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