Lage immer dramatischer: Tel Aviv unter Dauerbeschuss – mehr als 50 tote Palästinenser
Gaza/Tel Aviv –
Der dumpfe Donner von entfernten Einschlägen, Explosionen, Sirenengeheul: Der Tel Aviver Großraum erlebt einen nie dagewesenen Raketenhagel. Als Antwort zerstört Israels Luftwaffe weiter Hamas-Ziele und Hochhäuser im Gazastreifen. Beide Seiten melden Todesopfer – und beide Seiten feuern unverändert weiter. Eine Beruhigung der Lage rückt immer weiter in die Ferne.
Es war eine der schlimmsten Nächte seit Langem: Über weiten Teilen Israels gab es am Dienstagabend und Mittwochmorgen Bilder, die einem Feuerwerk glichen – bloß: Es war kein bunt glänzender Sternenregen, sondern Raketen, die aus dem Gazastreifen abgefeuert und zum Teil von Abwehrsystemen vom Himmel geholt wurden. Einige schlugen auch ein.
Im Gegenzug ist auch das Palästinensergebiet heftig unter Beschuss geraten – und: Israel hat nach eigenen Angaben hochrangige Vertreter der im Gazastreifen herrschenden Hamas getötet. „Das ist erst der Anfang. Wir werden ihnen Schläge versetzen, die sie sich niemals erträumt haben“, sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu dazu am Mittwoch in einem Krankenhaus in Cholon.
USA blockieren UN-Stellungnahme zum Nahost-Krieg
Nach Angaben der israelischen Armee feuerten militante Palästinenser seit Montagabend mehr als 1000 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel. Alarm gab es am Mittwoch vor allem im Umkreis des Küstengebiets und auch in Städten wie Aschkelon, Aschdod und Beerscheva. Das israelische Militär setzte im Gegenzug massive Luftangriffe in dem Palästinensergebiet fort. Nach Angaben des Militärs starben in Israel mindestens fünf Menschen durch Raketenbeschuss. Zudem wurde ein israelischer Soldat von einer Panzerabwehrrakete getroffen und getötet. Im Gaza-Streifen sind die Todeszahlen ungleich höher: Das Gesundheitsministerium bezifferte die Zahl der Getöteten auf mehr als 50.
International wuchs die Besorgnis über die Eskalation des Konflikts. Tel Aviv war in der Nacht auf Mittwoch unter so heftigen Beschuss geraten wie nie zuvor. Verteidigungsminister Benny Gantz stimmte die Bürger auf einen längeren Militäreinsatz ein. Die Vereinten Nationen warnten den UN-Sicherheitsrat laut Diplomaten vor einem großen Krieg. Die USA haben eine gemeinsame Stellungnahme des mächtigsten UN-Gremiums zur eskalierenden Gewalt in Nahost Kreisen zufolge am Mittwoch zunächst blockiert.
Zwangsräumung in Scheich Dscharrah entzündete Proteste
Der Konflikt hatte sich kurz vor Ende des Fastenmonats Ramadan an einer anstehenden Zwangsräumung von vier palästinensischen Häusern in Ost-Jerusalem zugunsten von jüdischen Siedlern entzündet. Im Viertel Scheich Dscharrah, das überwiegend von arabischstämmigen Menschen bewohnt wird, sind Dutzende vom Verlust ihres Zuhauses bedroht. Sie leben auf Land, das Juden im 19. Jahrhundert gekauft hatten und das nach dem israelischen „Unabhängigkeitskrieg“ von 1948 unter jordanischer Herrschaft von Palästinensern besiedelt wurde. Viele heutige Bewohner waren selbst im Krieg geflohen oder vertrieben worden.
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Ein israelisches Gesetz regelt, dass Juden Land, das sie im Krieg von 1948 verloren haben, zurückverlangen können. Aber: Das gleiche Recht wird Palästinensern verwehrt: Laut der Zeitung „Haaretz“ sind 30 Prozent der Immobilien in Westjerusalem vor 1948 in Besitz von Arabern gewesen – heutzutage leben dort fast ausschließlich Juden.
Vor allem in Jerusalem hatte es zuletzt immer wieder heftige Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gegeben. Auslöser waren neben der Zwangsräumung auch Proteste gegen Polizei-Absperrungen in der Altstadt.
Die Hamas baut viele ihrer Waffen selbst
Beobachter vermuteten, dass die Tötung der hochrangigen Hamas-Vertreter nun eine weitere Verschärfung der Raketenangriffe nach sich ziehen könnte. Die Einsätze gegen die Hamas-Vertreter erfolgten den israelischen Angaben zufolge gleichzeitig in Chan Junis und Gaza. Die israelische Armee und der Geheimdienst teilten mit, die Getöteten ständen dem legendären Militärchef Mohammed Deif nahe und seien Teil des militärischen Stabs der Hamas.
Wie das israelische Militär am Mittwochmorgen mitteilte, wurden rund 850 der mehr als 1000 aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen entweder abgefangen oder sie gingen in Israel nieder. Etwa 200 weitere seien noch im Gazastreifen niedergegangen. Der militärische Arm der Hamas feuerte nach eigenen Angaben am Mittwoch auch 15 Raketen in Richtung der Wüstenstadt Dimona ab. Dort liegt Israels Atomreaktor. Dieser gilt allerdings als extrem gut geschützt.
Die Hamas baut sich ihre Waffen entweder selbst oder schmuggelt sie in das Küstengebiet, über Ägypten oder den Seeweg. Zahlen zu ihrem Raketenarsenal nannte die Gruppe, die von Israel und der EU als Terrororganisation eingestuft wird, bislang noch nie. Das Thema gilt als streng geheim. Es ist verboten, darüber zu reden oder Nachfragen dazu zu stellen. Seit Ende 2014 hat sich die Hamas stark um einen Ausbau ihres Arsenals und ihrer militärischen Fähigkeiten bemüht.
Seit sie dort 2007 gewaltsam die Macht übernahm, hat sich die radikale Palästinenserorganisation mit Israel drei Kriege geliefert. Israel und Ägypten halten das Gebiet unter Blockade; etwa zwei Millionen Menschen leben dort nach Angaben von Hilfsorganisationen unter miserablen Bedingungen. Kritiker werfen den Israelis vor, Palästinenser gezielt zu unterdrücken, ein System der Apartheid zu errichten und Völkermord zu betreiben.
Auch deutsche Politiker besorgt über aktuelle Eskalation in Nahost
Die Bundesregierung verurteilte die Raketenangriffe der Hamas und mit ihr verbündeter extremistischer Gruppen auf Städte in Israel scharf. „Ihr Ziel ist es, wahllos und willkürlich Menschen zu töten“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Auf die Nachfrage, ob auch israelische Angriffe im Gazastreifen, bei den ein Wohnhaus getroffen und Kinder getötet worden seien, verurteilt würden, sagte Seibert: „An einem Tag wie heute ist unsere Haltung sehr klar: Die terroristischen Raketenangriffe auf Israel müssen aufhören.“
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier drückte den Menschen in Israel seine „uneingeschränkte Solidarität“ aus. Nichts rechtfertige die Raketenangriffe auf das Land, sagte er am Mittwoch bei einem Telefongespräch mit Israels Staatspräsidenten Reuven Rivlin nach Angaben des Bundespräsidialamts.
Irans Außenminister Mohammed Dschawad Sarif kritisierte Israel dagegen heftig. Bei einem überraschenden Besuch im Bürgerkriegsland Syrien sagte er, die „kriminellen Handlungen“ Israels hätten die Lage in der Region deutlich verschlechtert. (mp/dpa)