Lage in Göttingen eskaliert: Fluchtversuche aus Corona-Quarantäne, Polizisten verletzt
In dem Hochhaus an der Groner Landstraße leben etwa 700 Personen, davon 200 kinder und Jugendliche.
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Göttingen –
Nachdem Bewohner eines wegen Corona unter Quarantäne stehenden Hochhauses in Göttingen am Sonnabend Polizisten mit Gegenständen beworfen hatten, hat sich die Lage über Nacht beruhigt. Polizei und Stadt informierten am Sonntag in einer Pressekonferenz über die Vorfälle. Unklar ist, was zur Eskalation der Situation geführt hat. Das Vorgehen der Stadt wird bereits seit Tagen aus verschiedenen Richtungen kritisiert.
Der Gebäudekomplex in der Groner Landstraße steht wegen gehäufter Corona-Infektionen unter Quarantäne. Betroffen sind davon etwa 700 Menschen, darunter mehr als 200 Kinder und Jugendliche. Zunächst waren in der Anlage, die als ein sozialer Brennpunkt Göttingens gilt, zwei Infektionen bekannt geworden.
120 Corona-Tests positiv – Göttingen riegelt Wohnkomplex ab
Bei zwei jungen Frauen wurde das Virus bei einer Routinekontrolle im Krankenhaus entdeckt. Die Stadt setze daraufhin am Montag und Dienstag ein mobiles Testzentrum mit Bussen für die Bewohner ein. Insgesamt wurden knapp 700 Menschen getestet, nach Angaben der Stadt waren bislang 120 Tests positiv.
Am Donnerstag riegelte die Stadt den Wohnkomplex ab, bis kommenden Donnerstag (25. Juni) dürfen die Bewohner das Areal nicht verlassen. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs stelle die Stadt vor Ort bereit, hieß es.
Quarantäne in Göttingen: Kritik an Vorgehen der Stadt
Die Göttinger Grünen-Fraktion hatte das Vorgehen der Stadt bereits am Donnerstag massiv kritisiert und sprach davon, dass die Stadt die Menschen „wegsperre“. „Man muss sich das einmal vorstellen. In diesem Haus leben Menschen unter den widrigsten Umständen“, erklärte Thomas Harms, Ratsherr der Grünen in Göttingen, in einer Pressemitteilung. „Wir fragen uns, ob die Stadtverwaltung die gleichen Maßnahmen in einem großen Wohnkomplex mit gut situierten EigentümerInnen und MieterInnen so umsetzen würde.“
Die Maßnahmen seien wichtig, um Neuinfektionen zu verhindern, ergänzte die Grüne Regina Meyer. „Extrem bitter ist, dass es die ärmsten der Armen in den prekärsten Wohnverhältnissen betrifft. Höchste Priorität muss es jetzt haben, dass die Quarantäne des Gebäudekomplexes nicht zu Neuinfektionen führt.“
Auch Christian Hölscher von der Jugendhilfe Göttingen äußerte sich besorgt. Es handele sich um eine völlig neue, einschneidende Situation. Hölscher spricht – wie andere Beobachter in Göttingen auch –von engem Wohnraum, unzureichender Hygiene und auch Drogen- und Alkoholproblemen. Vielen in der Stadt sei klar, dass dies kein idealer Ort für aufwachsende Kinder sein könne.
Lage eskaliert – Polizei: „massiver Einsatz von Pfefferspray“
Am Sonnabend demonstrierte die Gruppe „Basisdemokratische Linke“ in der Nähe des Wohnkomplexes. Sie kritisiert das „repressive“ Vorgehen der Polizei. Die Bewohner hätten in dem eingezäunten Hochhaus zudem keine Chance, untereinander Abstand zu halten.
Gleichzeitig spitzte sich die Lage im Haus zu, durch Würfe mit Gegenständen wurden acht Polizeibeamte verletzt. Die Einsatzkräfte seien mit Flaschen, Steinen, Metallstangen, Haushaltsgegenständen und Pyrotechnik beworfen worden, sagte Göttingens Polizeipräsident Uwe Lührig am Sonntag. Drei verletzte Beamte seien vorerst nicht dienstfähig. Es werde nun unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt.
Die Bewohner des abgeriegelten Wohnkomplexes hätten außerdem versucht, die von der Stadt aufgestellten Zäune zu überwinden. Etwa 80 bis 100 Bewohner hätten sich an der Absperrung versammelt. Nur mit „massivem Einsatz von Pfefferspray“ hätten die Beamten verhindert, dass die Absperrung durchbrochen wurde, sagte Einsatzleiter Rainer Nolte. Es seien auch Kinder aktiv daran beteiligt gewesen, es sei aber nicht bewusst auf Kinder gesprüht worden, sagte Nolte auf Nachfrage. „Kenntnisse über Verletzungen der Bewohner liegen mir nicht vor.“
Anschließend hätte sich die Lage beruhigt. „Die Nacht war ruhig“, sagte eine Polizeisprecherin am Sonntagmorgen. (dpa/skö)