• Aufgebrochen, um Menschen zu retten: Die Sea Eye 4.
  • Foto: Sea-Eye

Sea-Eye-Chef im MOPO-Interview: „EU lässt Menschen ertrinken, statt sie zu retten“

Hamburg –

Sie riskieren alles für einen Trip in ein vermeintlich besseres Leben: Immer mehr Menschen brechen zur gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer auf. Das Schiff „Sea-Eye 4“ hat bei seinem ersten Einsatz schon über 400 Menschenleben gerettet. Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye, erzählt im MOPO-Interview von der Arbeit der Crew, der Ignoranz der Politik und dem Glück, Menschen zu retten.

MOPO: Wie ist die Situation der Sea-Eye derzeit?

Gorden Isler: Unser Schiff hat am Wochenende innerhalb von 24 Stunden 415 Menschenleben gerettet. Darunter sind 150 Minderjährige und auch viele Familien. Die Rettungsleitstellen auf Malta und in Rom lehnten es bisher ab, die Koordinierung zu übernehmen und verweisen auf die deutsche Rettungsleitstelle.

In Bremen verweist man an das Auswärtige Amt. Wir warten also gerade darauf, dass ein staatlicher Akteur Verantwortung übernimmt. Unsere Crew versorgt seit Montag nun über 400 Menschen und unser medizinisches Team testet alle Personen auf Corona. Bisher sind alle negativ.

„Darüber, sich im Stich gelassen zu fühlen, sind wir bereits weit hinaus“

Ist ein sicherer Hafen in Sicht?

Bisher wurde uns kein Hafen zugewiesen. Wir haben uns daher entschieden, unseren Zielhafen Palermo anzulaufen. Der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, reagierte auch sofort, als er erfuhr, dass sich niemand kümmert und machte klar, dass Palermo immer ein sicherer Hafen für Schutzsuchende sein wird. Die Gewässer vor Palermo haben wir inzwischen erreicht und hoffen nun, dass sich eine Lösung findet. Erfahrungsgemäß dauert es derzeit zwei bis vier Tage, bis Rettungsschiffen Häfen zugewiesen werden, und wir befinden uns gerade genau in diesem Zeitfenster.

Fühlen Sie sich im Stich gelassen von den EU-Staaten?

Darüber, sich im Stich gelassen zu fühlen, sind wir bereits weit hinaus. In Griechenland schaut Frontex zu, wie die griechische Küstenwache Menschen auf dem Meer aussetzt. In der maltesischen Rettungsleitstelle geht niemand ans Telefon, wenn man Menschen aus hochseeuntauglichen Gummi- oder Holzbooten rettet. Spanische Polizisten prügelten am Dienstag Schutzsuchende zurück ins Wasser.

Mittelmeer: Mehr als 600 Menschen sind schon in diesem Jahr ertrunken

EU-Mitgliedsstaaten paktieren lieber mit der sogenannten libyschen Küstenwache oder lassen Menschen ertrinken, statt sie zügig zu retten. Italien ruft aufgrund der hohen Ankunftszahlen um Hilfe und nur Irland meldet sich und bietet an, zehn Menschen aufzunehmen. Im Stich gelassen werden vor allem die Schutzsuchenden selbst. Diese europäische Brutalität hat dazu geführt, dass allein in diesem Jahr bereits mehr als 600 Menschen ertrunken sind. Und die Monate mit langen, guten Wetterperioden kommen ja erst noch. Daran kann nur die Politik etwas ändern, und das könnte sie sofort.

In welcher Verfassung sind die Geretteten? Es sind ja auch Kinder und ein Baby an Bord.

Die Geretteten sind natürlich total erschöpft. Einige berichten, dass sie schon drei Tage ohne Nahrung und Wasser auskommen mussten. Andere sind seit vielen Monaten auf der Flucht. Dem Baby geht es auch gut. Wir haben insbesondere auf die verletzbarsten Personen ein besonderes Augenmerk.

Wie belastend ist die Arbeit für die Crew, auch psychisch?

415 Menschen auf Dauer zu versorgen und zu beruhigen ist für 26 Crew-Mitglieder eine schwere Belastung. Die Crew beschreibt es so, dass sie erschöpft ist aber auch glücklich, so viele Menschen gerettet zu haben. Die Einstellung unserer Crew ist einfach sensationell. Aber das war auch schon bei den 300 ehrenamtlichen Werftarbeiter:innen schon so, die das Schiff innerhalb von sechs Monaten vom Offshore-Versorger zum Rettungsschiff umbauten.

Gorden Isler: „Sea Eye 4“-Crew kehrt im Juni zu Familien zurück

Wie geht es weiter?

Wenn das Schiff einen sicheren Hafen zugewiesen bekommen hat und die Ausschiffung der Geretteten stattgefunden hat, wird auch die Crew noch einmal auf Corona getestet. Dann werden die Italiener die Crew noch einmal 14 Tage auf dem Schiff quarantänisieren. Anschließend wird die italienische Küstenwache sicher eine Hafenstaatskontrolle durchführen und technische Details finden, die ihnen nicht gefallen.

Das bedeutet, dass die Crew vermutlich erst Anfang Juni zu ihren Familien zurückkehren kann und dass wir uns dann im Juni in technischen Diskussionen mit der italienischen Küstenwache befinden. Das ist seit rund einem Jahr die neue politische Strategie des italienischen Verkehrsministerium. Unter dem früheren Innenminister Matteo Salvini war es schwer, in den Hafen reinzukommen.

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Nun ist es immer wieder sehr viel Arbeit, den Hafen wieder verlassen zu dürfen. Aber auch auf diese Schwierigkeiten bereiten wir uns bereits vor. Das Ziel von Sea-Eye ist es, immer die Einsatzbereitschaft so schnell wie möglich wieder herzustellen. Mit breiter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft wird uns das auch gelingen.

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