Tobias Schlegl im Interview: „Krankenhäuser sollten keinen Gewinn machen müssen“
Tobias Schlegl (42) war Mitte der 90er eines der Gesichter des Musiksenders Viva. Später moderierte er im NDR u.a. die Satire-Sendung „Extra 3”, im ZDF „Aspekte“. Für die MOPO schrieb er jahrelang eine Kolumne. Dann zog er sich aus dem Fernsehen zurück und wurde Rettungssanitäter. Über seine Erfahrungen hat er nun den Roman „Schockraum” geschrieben.
MOPO: Als Sie die Ausbildung zum Rettungssanitäter begonnen haben, sagten Sie, dass Sie etwas „gesellschaftlich Relevantes“ machen wollen. Empfanden Sie Ihre Arbeit beim ZDF nicht als relevant?
Tobias Schlegl: Doch, interessante Menschen vorstellen, Missstände ansprechen, das hatte ich ja auch da. Aber nach 20 Jahren in dieser Branche wollte ich konkret anpacken. Da ist ein Idealismus in mir gewachsen. Ich präsentierte Menschen, die etwas Interessantes machen, und fragte mich gleichzeitig, was ich selbst Relevantes leiste. Ich habe dann meinen Vertrag beim ZDF gekündigt, ihn nicht mal auslaufen lassen – ungewöhnlich in der Branche.
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MOPO: Allerdings. Es fallen Parallelen zwischen Ihrem Leben und dem des Protagonisten Kim in Ihrem Buch „Schockraum“ auf. Kim stellt sich mit seinem Berufswechsel auch seinen Ängsten. Sie ebenfalls?
Ja, weil ich tatsächlich auch eine ungute Beziehung zum Thema Tod hatte. Das Thema hat einfach nicht stattgefunden. Wir sehen in unserem Alltag nur funktionierende Leute. Beim Thema Tod herrscht Sprachlosigkeit. Ähnlich wie der Protagonist, bin auch ich dann in einen Bereich reingeschlittert, wo man mit dem Tod umgehen muss. Eine große Herausforderung. Man geht mit Idealismus in den Job und will retten. Doch man sieht auch schnell die ersten Toten.
MOPO: Was bedeutete dieser Berufswechsel denn für Sie?
Erstmal schlaflose Nächte. Ich habe mich reingestürzt in das Leben als Azubi. Die Ausbildung ist dreiteilig: Man arbeitet im Krankenhaus, im Rettungswagen und hat Schulstunden. Am Anfang macht man sich echt klein. Man fängt wieder ganz vorne an, ist Lehrling und wird auch so behandelt – man steht in der dritten Reihe. Besonders bei der Arbeit im Krankenhaus. Das ist natürlich auch gut so. Man lernt Tag für Tag dazu – und hat kleine Erfolgserlebnisse. Zum Beispiel, wenn man lernt, einen intravenösen Zugang zu legen. Und dann merkt man plötzlich, man trifft die Vene beim ersten Mal und kann einen Zugang legen, ohne große Schmerzen zu verursachen.
MOPO: In „Schockraum“ thematisieren Sie immer wieder die Missstände im Gesundheitswesen. Schlechte Bezahlung, 12-Stunden-Schichten plus Überstunden, Einsätze, die sich als unnötig herausstellen. Wo sehen Sie das Hauptproblem?
Das sind zwei große Schrauben: einmal der Personalmangel, der dazu führt, dass die Kollegen 200 Stunden ableisten müssen. Zweitens der Lohn, der diesem Job einfach nicht gerecht wird.
MOPO: Was verdient denn ein Notfallsanitäter?
Das ist unterschiedlich, aber im Schnitt und in Vollzeit so 3000 Euro brutto, dabei leisten sie jedoch auch ungefähr 200 Stunden. Notfallsanitäter ist dabei bereits die höchste Stufe im Rettungsdienst. Wenn man noch jung und alleinstehend ist, kommt einem das vielleicht wie eine hohe Summe vor. Für ältere Menschen, für Menschen, die Familien ernähren müssen, ist das aber natürlich ein ganz anderer Schnack. Letztlich wirft keiner von ihnen am Ende des Monats mit Fuffis durch den Club.
MOPO: Gibt es noch weitere Punkte?
Genau! Einen weiteren wichtigen Punkt thematisiert ja auch das Buch: die psychische Belastung. Man hat keine Zeit, sich zu erholen, heftige Einsätze zu besprechen. Auch dabei ist das Hauptproblem die Stundenlast. Die Arbeitsbedingungen müssen unbedingt besser werden. Die Personaldecke ist sehr, sehr dünn, und es funktioniert nur, weil die Kollegen Überstunden machen. Der Rettungsdienst hat keine Lobby.
MOPO: Sie bezeichnen Ihr Buch als politisch – viele Gespräche in „Schockraum“ beinhalten Probleme des Jobs und den Wunsch nach Veränderung. Was erwarten Sie von der Politik?
Ich erwarte konkret, dass Politiker auf den Rettungsdienst gucken, dass die Menschen dort nicht weiter verfeuert werden. Die Frage ist auch, ob sich durch Corona etwas verändert hat. Natürlich, die Leute standen auf den Balkonen und haben geklatscht, aber politisch hat sich nichts verändert. Es gibt zwar eine Bonuszahlung, jedoch nur für Pflegekräfte in Pflegeheimen. Notfallsanitäter bekommen keine.
MOPO: Im Buch geht es auch um die Ökonomie im Gesundheitswesen. Alles muss sich rechnen. Sie stellen die Frage: „Warum müssen Pflegeheime Gewinn machen? Warum Krankenhäuser?“ Haben Sie eine Antwort?
Sowohl Pflegeheime wie auch Krankenhäuser sollten keinen Gewinn machen müssen. Die Feuerwehr fragt ja auch keiner, ob sie Gewinn eingefahren haben, ob sie auch genug Einsätze gefahren sind. So muss es auch im Gesundheitswesen sein.
MOPO: Was ist an der aktuellen Lage so problematisch?
Wenn primär auf Gewinnmaximierung geschaut wird, wird das Problem an die Patienten weitergegeben. Sie bekommen nicht die Behandlung, die sie brauchen. Man widmet ihnen nicht genügend Zeit. Manchmal ist es jedoch auch zu viel an Behandlung. Oft ist es so, dass die Ärzte aber darauf achten. Sie schalten den Gedanken aus, ob sich ihr Patient jetzt rechnet oder nicht. Wir müssen raus aus dieser Gewinnmaximierungsfalle!
MOPO: Wenn Sie könnten, was würden Sie mit Blick auf Ihren Job ändern?
Runter von der Stundenlast! Das würde den Kollegen massiv helfen. So könnte man ein Privatleben haben, hätte Zeit, um die Einsätze und das Erlebte zu verarbeiten.
MOPO: In Ihrem Buch leidet Kim nach einem furchtbaren Einsatz an einem Trauma. Gibt es Psychologen, die mit den Notfallsanitätern zusammenarbeiten? Gibt es die Möglichkeit, Erlebtes zu verarbeiten?
Es gibt das Kriseninterventionsteam (KIT) des Roten Kreuzes, da können sich Einsatzkräfte Hilfe holen. Allerdings muss man dafür erst einmal an den Punkt kommen, dass man sich hinstellt und sagt: „Ich brauche das jetzt.“ Für viele ist das ein Zeichen der Schwäche – und der Beruf ist nach wie vor männerdominiert.
MOPO: Da will man keine Schwäche zeigen.
Das ist echt ein Problem. Eigentlich müsste das automatisierter passieren, so wie bei Soldaten oder sogar bei Fußballern. Da gibt es in einigen Fällen Psychologen, die das Team begleiten. Sanitäter müssen selbst hinterher sein. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Damit man weiter gut funktionieren kann.
MOPO: Im Roman geht es so weit, dass Tim aufgrund seines Traumas Fehler beim Patienten macht.
Das ist die Gefahr und natürlich das Schlimmste, was passieren kann. Dennoch ist es mir wichtig zu betonen, dass einen der Job als Notfallsanitäter erfüllt, einen glücklich macht. Es ist schade, dass die Arbeitsbedingungen einen so bremsen. Das ist es, was einen raustreibt.
MOPO: Kim, der Protagonist, leidet unter der Wartesituation auf der Wache. Und dem darauffolgenden Wechsel zur absoluten Präsenz. Geht Ihnen das genauso?
Kim ist extremer. Eine Belastungsstörung habe ich nicht gehabt. Kim hatte ja irgendwann regelrecht Angst vor Einsätzen, das ging mir nicht so. Aber die Herausforderung durch den Wechsel existiert. Man entspannt sich, beziehungsweise versucht es, dann kommt eine Einsatzmeldung und man muss innerhalb von Sekunden funktionieren. Muss mit 70 Sachen durch vollgestopfte Hamburger Straßen zum Einsatzort. Man weiß nicht, was einen erwartet. Das ist einerseits spannend, aber auch eine Belastung.
MOPO: Das beschreiben Sie in Ihrem Roman sehr eindrücklich. Und auch, dass nicht alle Notrufe auch solche sind.
Ja, man fährt oft wegen Quatsch raus. Wegen Lappalien: leichte Rückenschmerzen, Halsschmerzen, Bluten nach Nasebohren …
MOPO: … nicht zu fassen. Als ich das las, konnte ich es kaum glauben.
Das Schlimme ist, dass man seinen Körper natürlich auch bei solchen Fällen komplett hochgefahren hat. Dort jedoch gar nicht vonnöten ist. Das frustriert. Oft ist es so, dass der elfte Einsatz, kurz vor Feierabend, der ist, der einen wirklich herausfordert. Da noch mal 100 Prozent da zu sein, keine Fehler zu machen – das ist nicht leicht. Dieses Runterfahren, dann sofort wieder hoch, dann wieder runter und so weiter: Diese Unsicherheit, das ist schon anstrengend. Spannend, aber in der hohen Schlagzahl wirklich extrem anstrengend.
MOPO: Kim beschreibt sich als energielos, abwesend, ausgebrannt. Ich nehme an, das ist nicht nur ein Problem des Protagonisten?
Nein, zumal das Privatleben bei diesem Job eh sehr, sehr schwer planbar ist. Sich nach der Arbeit zu verabreden, ist immer ein Hochrisiko (lacht). Und an Tagen, an denen man frei hat, will man eher Ruhe. Privatleben, Freunde treffen, das hat sehr gelitten. Man muss priorisieren, und das ist dann halt immer der Job. Es gibt nur wenige Momente, in denen man ausbrechen kann. Verrückt eigentlich, man sieht immer kranke und kaputte Menschen, kommt dann aber selbst nicht aus der Lage raus.
MOPO: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie ein Überlebender Kim zu sich ins Krankenhaus bittet, um sich zu bedanken. Haben Sie das wirklich erlebt?
Ja! Man kriegt in diesem Job nicht viel Dank, was okay ist, schließlich ist es unser Job zu helfen. Aber es gab einen, der sich nach einer geglückten Reanimation bei mir bedankt hat. Das ist ein Moment, den ich eingespeichert habe, den ich immer noch abrufen kann, der einen immer wieder aufbauen kann. Diese Momente sind wirklich kostbar.