Montag preisgekrönt, Sonntag abgesetzt: Das traurige Ende des Musicals „Hamilton“
Es klingt absurd: Am 9. Oktober wird „Hamilton“ in Berlin mit dem „Deutschen Musical Theaterpreis“ als „Produktion des Jahres“ ausgezeichnet, fast auf den Tag genau ein Jahr nach der umjubelten Premiere im Operettenhaus. Und am 15. Oktober – nur sechs Tage später – fällt der letzte Vorhang. Das Ende von „Hamilton“ in Deutschland. 400.000 Menschen haben das Stage-Entertainment-Stück gesehen; wirtschaftlich solide, aber nicht so, dass mehr drin gewesen wäre. Woran hat’s gelegen? Charles Simmons (52) spielt George Washington – im MOPO-Interview spricht er darüber, was vielleicht besser hätte laufen können, über Verantwortung – und ein Vermächtnis.
MOPO: Am 15. Oktober ist endgültig Schluss, letzter Vorhang für die deutsche Version des US-Erfolgsmusicals „Hamilton“ – wie fühlt sich das für Sie an?
Charles Simmons: Ich bin natürlich traurig. Aber es gibt einen schönen Spruch: Don’t be sad that it’s over, be happy that it happened. Und je näher wir dem Ende kommen, desto glücklicher bin ich tatsächlich, dass es überhaupt passiert ist. Man muss sich das mal überlegen: Die ganze Musical-Welt hat über unsere Produktion gesprochen, die „New York Times“ hat von uns geschwärmt. Wir hatten Zuschauer, die aus anderen Teilen Europas und aus Großbritannien gekommen sind, um die deutsche Version zu sehen. Ich habe mit einer Familie aus Wisconsin, USA, gesprochen, die nur dafür angereist ist. Das ist groß. Wir haben gezeigt, dass so ein komplexes Stück auch hier funktionieren kann – kreativ gesehen.
Und trotzdem ist jetzt Schluss. Was meinen Sie: Wo war das Problem?
Ich glaube, da geht es viel um das Thema Bekanntheit. Das Stück ist in den USA mega-erfolgreich, finanziell das erfolgreichste Musical aller Zeiten. Es ist vom Bekanntheitsgrad vergleichbar mit „West Side Story“. In Deutschland aber nicht. Und hier steht man – mal ein bisschen frech gesagt – oft eher auf Sachen, die man schon kennt.
„Hamilton“: In der Entertainment-Welt eine riesige Nummer
Sie meinen: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht?
Ganz genau. (lacht)
Sie haben Großes geschaffen, sagen Sie. Sie haben auf eine Art aber auch tatsächlich Musical-Geschichte geschrieben.
Absolut. Wie gesagt: „Hamilton“ ist in der internationalen Entertainment-Welt eine riesige Nummer. Und wir haben die erste nicht-englischsprachige Version davon rausgebracht. Darauf sind wir alle sehr stolz – genau wie auf die Bedeutung, die das Stück in Sachen Diversität, Sichtbarkeit und Integration hat.
„Hamilton“ erzählt eine Geschichte von weißen Männern und Frauen – der Cast besteht aber fast ausschließlich aus People Of Color.
Ja. Und es gibt nichts Schöneres, als in die Reihen zu schauen und Schwarze Mädchen und Jungs und auch Kinder anderer Nationalitäten zu entdecken, die komplett begeistert sind, weil sie sich auf der Bühne sehen. Die meisten kennen nur weiße Darstellerinnen und Darsteller. Bei uns sehen sie, dass Leute, die sind wie sie selbst, auf so einer großen Bühne stehen und so eine Geschichte erzählen können. Und vielleicht denken sie auch unseretwegen: Wenn die das können, dann kann ich das auch. Für viele von uns ist das einer der Hauptgründe, warum wir das machen: Repräsentation. Die Möglichkeit zu haben, Menschen, die wie wir sind, zu zeigen, dass das durchaus geht.
Gerade unter dem Aspekt: Was hätte man anders machen müssen, um die Bekanntheit zu erhöhen?
Das kann ich nicht sagen, ich bin kein Marketing-Typ.
Aber Sie haben eine Meinung?
Schon, ja. Ich persönlich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass man die Menschen aus der HipHop-Ecke mehr angesprochen hätte. Für viele Menschen funktioniert ein „normales“ Musical wie „Mamma Mia!“ oder „Tanz der Vampire“ total super und wunderbar. Andere finden Musicals aber nach wie vor sehr kitschig, nur was für alte Menschen und so weiter. „Hamilton“ hat klar und deutlich gezeigt, dass Musical auch modern sein kann. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass man ein bisschen mehr auf diese Leute eingegangen wäre.
Die kurze Geschichte von „Hamilton“ in Deutschland
Am 6. Oktober 2022 feierte „Hamilton“ im Hamburger Operettenhaus seine Deutschland-Premiere – unter den Augen vieler Muscial-Experten aus der ganzen Welt. Die erste nicht-englischsprachige Version der erfolgreichsten Broadway-Produktion aller Zeiten (u.a. mehr als 50 Auszeichnungen und Theaterpreise) war lange mit Spannung erwartet worden. Schon durch die Produktionskosten hatte Stage-Entertainment 12 Millionen Euro auf der Rechnung. Ein großes wirtschaftliches Risiko – das man dennoch eingehen wollte: „Wir glauben so sehr an das Kunstwerk, an die Innovation, dass wir das Stück dem deutschen Publikum als Werk nicht vorenthalten wollen“, hieß es damals von Stage-Seite. Mit einem Jahr hatte man erst einmal geplant – wie üblich beim Musical-Giganten aus Hamburg. Doch schon im März 2023 war klar, dass das Stück keine zweite Spielzeit bekommen würde. Und so ist am Sonntag Schluss. An diesem Montag zeichnet die „Deutsche Musical Akademie“ „Hamilton“ mit dem Craig-Simmons-Preis aus: als „Produktion des Jahres“. Damit soll sowohl die Leistung des Übersetzer-Duos Sera Finale und Kevin Schroeder als auch der „produzentischen Mut“ von Stage-Entertainment gewürdigt werden.
Das ist in der Kommunikation aber nicht so leicht in Deutschland: In den USA sind HipHop und Rap sozusagen Teil der Kultur.
Das sehe ich ein bisschen anders. Weil man dabei vergisst, dass es ja auch in Deutschland seit mehr als 30 Jahren HipHop gibt. Ich rede von Fans von Fanta Vier, Fünf Sterne Deluxe, Fettes Brot oder so. Solche Menschen hätten vielleicht ein bisschen mehr angesprochen werden können.
Kann man sagen, dass es bei „Hamilton“ nicht einfach nur um drei Stunden Unterhaltung geht, sondern dass man mit dem Stück auch Verantwortung hat in Sachen Sichtbarkeit und Diversität?
Auf eine Art, ja. Und ich finde, wir als Cast haben das Beste daraus gemacht in der Zeit, die wir hatten. Das hat sich rumgesprochen und darüber bin ich glücklich. Vielleicht bleibt das, was wir geleistet haben, hier in Hamburg ja ein bisschen hängen. Dass die diese Diversität durchaus möglich ist, auch in anderen Stücken. Das ist unser Vermächtnis – hoffentlich.
„Hamilton“: bis 15.10., diverse Uhrzeiten, Operettenhaus, Ticket ab 54,10 Euro (2-für-1-Angebot)