„Stopp, Leute, was machen wir hier!“: Hamburger Schauspielerin über Mord und Moral
Wer in Hamburg gerne ins Theater geht, kennt Julia Nachtmann aus ihrer Zeit am Schauspielhaus, wo sie bis 2012 zum Ensemble gehörte. Im Rest des Landes ist sie vor allem aus TV-Filmen sowie als Sprecherin von Dokumentationen und Hörbüchern (auch für Kinder) bekannt. Jetzt steht sie im St. Pauli-Theater wieder auf der Bühne, in Neil LaButes „Die Antwort auf alles“. Ganz leicht ist das nicht.
MOPO: Der Titel des Stücks klingt harmlos, aber der Autor ist dafür bekannt, menschliche Abgründe aufzudecken. Sie spielen eine von drei Frauen, die Missbrauch erlebt haben und Jahre später einen Pakt schließen, um den jeweiligen Peiniger der anderen zu ermorden. Wie gehen Sie an eine solche Rolle heran?
Julia Nachtmann: Eine der drei Frauen hat Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt, die andere während der Collegezeit. Ob meine Figur, die dritte, auch vergewaltigt wurde oder ob sie das nur erfunden hat, bleibt offen. Trotzdem hat sie sich diesem Trio angeschlossen und versprochen, jemanden umzubringen. Nachdem die erste Frau den ersten Mann getötet hat, merkt sie, dass die beiden anderen es ernst meinen – und nun muss sie mit dieser Schuld leben. Denn sie schafft es nicht zu sagen: Stopp, Leute, was machen wir hier?
„Die Antwort auf alles“ läuft im St. Pauli-Theater
Und wie fühlt sich das an?
Furchtbar! Dann wird der Zweite umgebracht, der ja sozusagen meiner ist, und sie merkt: Ein Mensch ist gestorben durch mich. Nun wäre sie dran, den Dritten umzubringen, aber sie schafft es nicht, und eigentlich hätte sie das schon vor dem ersten Mord sagen müssen. Ich kenne das – natürlich in anderen Zusammenhängen –, dass man Dinge vor sich herschiebt, Scheuklappen aufsetzt und weitermacht, weil man es sonst nicht aushält.
Ohne das Ende zu verraten: Bezieht das Stück – oder Ihre Figur – Stellung zu den moralischen Fragen?
Zunächst bedrängen die beiden anderen sie: Erst hat sie es versprochen, und jetzt kneift sie! Aber darf man Männer wegen Missbrauchs umbringen? Ich denke: nein; ich finde, dass man die Ursachen ergründen sollte, die zu dieser Tat geführt haben. Und trotzdem kann ich eine Frau verstehen, die sagt, dieser Mann hat mein Leben zerstört, und sie will einfach nur, dass er tot ist. Der Wunsch ist da, aber es auszuführen ist etwas ganz anderes. Das Interessante an dem Stück ist, dass man sich nie ganz sicher ist, auf wessen Seite man steht.
Heiklen Rollen wie dieser zum Trotz: Ist Schauspielerin noch immer Ihr Traumberuf?
Ganz klar: ja! Es ist nicht immer leicht und nicht immer nur schön, trotzdem bleibt es mein Traumberuf. Erst recht, da ich inzwischen relativ breit aufgestellt bin mit Film und Sprecherrollen, ich liebe diese Vielfältigkeit.
Begonnen haben Sie direkt nach Ihrer Ausbildung am Jungen Schauspielhaus, das 2005 als neue Sparte gegründet wurde …
Richtig, und ich war überrascht, wie viel Skepsis mir entgegenschlug: Kindertheater – Kolleg:innen warnten mich: „Wenn du da einmal anfängst, kommst du nie wieder raus!“ Ich hatte damals einen Vertrag, der mir zusicherte, nach zwei Jahren ins Große Haus zu wechseln. Aber ich hätte es auch ohne diese Zusage gemacht, ich habe in dieser Phase so viele tolle Erfahrungen und Begegnungen gehabt. Theater für Kinder muss man qualitativ eigentlich noch viel höher denken, denn wenn man Kinder begeistert, erreicht man das Publikum von morgen.
Julia Nachtmann spielte lange am Schauspielhaus
Nach weiteren fünf Jahren am Schauspielhaus haben Sie selbst ein Kind bekommen und sind seither freischaffend. In dieser Zeit begannen Sie als Sprecherin?
Auch schon davor, aber nicht so intensiv. In der Sprecher-Branche ist man nicht einfach so drin, ich habe am Anfang Sachen für wenig Geld gemacht, auch Dinge, die mir nicht gefallen haben. Ich habe viel Energie reingesteckt, um das langsam aufzubauen, es hat glücklicherweise funktioniert. Inzwischen kann ich davon leben, und alles, was ich zusätzlich mache, suche ich mir aus. Das gibt mir eine große Freiheit, und das ist toll!
St. Pauli-Theater: Premiere am 24.10., 19.30 Uhr (29,90 Euro auf allen Plätzen), 8.-19.11. (Di/Mi 29,90 Euro, Do-So 15-47,90 Euro), alle Uhrzeiten, Infos und Tickets gibt’s hier