Good morning, Vietnam! Von Hanoi bis Saigon – 50 Jahre nach dem großen Blutvergießen
Vietnam. Wer dieses Wort hört, denkt an Krieg. Auch 50 Jahre danach noch. Sofort haben wir das nackte Mädchen vor Augen, das nach einem Napalm-Angriff weinend vor den Flammen davonläuft. Wir meinen das Donnern der US-Hubschrauber zu hören, die über den Regenwald hinwegfliegen. Wumm wumm wumm wumm. Und Robin Williams brüllt ins Mikrofon: „Good morning, Vietnam!“
Wer allerdings selbst einmal das Land besucht hat, der hat sofort ganz andere, neue Bilder im Kopf. Von Bäuerinnen mit spitzen Hüten, die auf ihrem Tragholz Bambuskörbe voll mit Gemüse, Obst oder Blumen transportieren. Vom schier endlosen Strom der Mopeds, die hupend durch die Straßen Hanois oder Saigons kurven. Oder vom Sonnenaufgang in der Bucht des herabsteigenden Drachen. Halong Bay. Einer der schönsten Orte dieser Welt. Und der liegt in diesem geheimnisvollen Land, dessen Geschichte geprägt ist von Unterdrückung und Fremdherrschaft und dem unbedingten Willen, frei zu sein. MOPO-Chefreporter Olaf Wunder hat das Land vom äußersten Norden bis in den Süden bereist. Von Hanoi bis Saigon und bis zum Mekong-Delta. 1900 Kilometer in zwei Wochen. Hier ist sein Reisetagebuch.
Tag 1 bis 3: Hanoi, das Paris Südostasiens
Die französische Kolonialzeit hat viele Spuren hinterlassen. Prachtvolle europäische Bauten prägen Vietnams Hauptstadt. Und dann gibt es da noch die Altstadt, das sogenannte Viertel der 36 Gassen. In der Hang Thiec, der Gasse der Blechwaren, arbeiten immer noch Metallbieger. In der Hang Gai, der Seidenstraße, sind teure Boutiquen, Schneider und Galerien zu Hause.
Platz ist Mangelware hier, das ist auch der Grund, weshalb einige Häuser zur Straße hin so schmal gebaut sind, dass gerade noch Raum genug ist für eine Tür. Statt in die Breite geht es bei diesen „Tunnelhäusern“ in die Tiefe, und zwar bis zu 80 Meter weit. Noch vor 30 Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass in einem zehn Quadratmeter großen Raum sechs Menschen lebten. Hanois Altstadt war der am dichtesten besiedelte Flecken Südostasiens. Doch seit die kommunistische Partei 1986 „Doi Moi“ startete – die Erneuerung – hat sich viel verändert. Die Privatwirtschaft, die seither erlaubt ist, hat vielen Menschen ein klein wenig Wohlstand gebracht.
Aber Schattenseiten gibt es natürlich auch: Dass Hotels aus Beton, Stahl und Glas die traditionellen Bauten ersetzen, ist eine davon. Eine andere: der Straßenverkehr. Alle, die vor zehn Jahren noch mit dem Rad unterwegs waren, sitzen heute auf Mopeds.
Morgens auszuschlafen, ist in Hanoi nicht ratsam. Dann verpassen Sie das einzigartige Schauspiel, das sich dem Frühaufsteher am Hoan-Kiem-See bietet, wo jeden Tag gegen sechs oder sieben Uhr Vietnamesen kollektiv ihren Frühsport machen: Tai-Chi, Schwert- oder Fächertanz. Die Älteren begnügen sich damit, einmal rund um den See zu spazieren, der für Vietnamesen nicht bloß ein Naherholungsgebiet ist, sondern auch ein Heiligtum. Jedes Kind kennt die Geschichte von der Riesenschildkröte, die darin lebte und die dem Bauernführer Le Loi ein goldenes Zauberschwert gab, sodass er in der Lage war, Vietnam von der chinesischen Fremdherrschaft zu befreien. Das war im 15. Jahrhundert. Als 2016 die letzte Riesenschildkröte des Sees starb, war das Entsetzen in der traditionell abergläubischen Bevölkerung groß.
Ebenfalls sehr verehrt wird er: Ho Chi Minh. Der Revolutionsführer erklärte 1945 die Unabhängigkeit des Landes und führte anschließend Krieg gegen Frankreich und die USA, was ihn 1968 in Westeuropa zum Helden der revoltierenden Studenten machte. Heute ruht dieser Mann aufgebahrt in einem Mausoleum in Hanoi, wo er – ähnlich wie Lenin in Moskau – von Verehrern begafft wird. Soldaten in schneeweißer Uniform halten Wache und weisen jeden Besucher, der auch nur einen Zentimeter vom vorgeschriebenen Weg abweicht, lautstark zurecht.
Tag 3 und 4: Halong Bay, ein Weltwunder der Natur
Wer die Bucht des herabsteigenden Drachens nicht gesehen hat, hat Vietnam nicht gesehen, heißt es. 1969 Kalkfelsen ragen hier aus dem Wasser. Ein zauberhafter Ort. Seit einigen Jahren steht Halong Bay deshalb auf einer Stufe mit dem Amazonas-Regenwald, den Iguazu-Wasserfällen und dem südafrikanischen Tafelberg. Sie alle sind seither ganz offiziell „Weltwunder der Natur“.
Der Höhepunkt ist für mich der Morgen des zweiten Tages, als das Schrillen des Weckers meinen Schlaf um sechs Uhr jäh beendet und ich kurz darauf auf dem Oberdeck unseres Ausflugsschiffs stehe. Die ersten Sonnenstrahlen heißen den neuen Tag willkommen. Vor dem hellblauen Himmel zeichnen sich die vielen Inseln als graue Silhouetten ab. Noch nie zuvor habe ich Grau in so vielen Abstufungen gesehen.
Tag 5 und 6: Hue, die Residenz der Kaiser
Mit einem Drachenboot sind wir auf dem sogenannten Parfümfluss unterwegs, der so heißt, weil das Wasser in grauer Vorzeit angefüllt gewesen sein soll mit den Pollen der Blumen, die links und rechts am Ufer wuchsen. Direkt am Fluss liegt auch die Zitadelle, hinter deren hohen Mauern sich die sogenannte Verbotene Stadt befindet. Hier residierten ab 1802 nacheinander 13 Kaiser der Nguyen-Dynastie, von denen die meisten allerdings Marionetten der französischen Kolonialherren waren. Seit der Abdankung des letzten Kaisers 1945 ist die Verbotene Stadt für jedermann zugänglich.
Täglich schieben sich die Touristen durch die prächtigen Wohnhäuser, Pagoden und Tempel und besichtigen anschließend noch die Grabmäler, die sich die Kaiser am Rande der Stadt bauen ließen. Die schönste Grabanlage ist die von Kaiser Minh Mang (1791-1841), zu der ein halbmondförmiger See, Obelisken und Tempel gehören. Ein kleines Paradies im Diesseits, gebaut für das Jenseits. Und der Clou: Bis heute weiß niemand, wo genau in dieser Grabanlage die sterblichen Überreste des Herrschers beigesetzt sind.
Tag 8 und 9: Über den Wolkenpass nach Hoi An
Ein Ausläufer der Truong-Son-Berge bildet die Wetterscheide und die natürliche Grenze zwischen Nord- von Südvietnam. Heute ist das Gebirge kaum noch ein Hindernis, denn ein Tunnel führt mittendurch. Doch wir nehmen den traditionellen Weg, den Hai-Van-Pass, also den Wolkenpass, der seinem Namen alle Ehre macht, denn je höher wir kommen, desto regnerischer und trüber wird das Wetter.
Oben auf dem Gebirgskamm stoßen wir auf alte Befestigungsanlagen, die uns daran erinnern, welch strategisch wichtige Bedeutung diese Straße mal hatte: Es finden sich Wehrtürme der französischen Kolonialherren, Unterstände der Japaner, Geschützstellungen der Vietcong und Bunker der US-Armee. Während des Vietnamkriegs haben die USA in den Wäldern ringsherum Agent Orange versprüht, um die Bäume zu entlauben und den feindlichen Kämpfern die Deckung zu nehmen. Heute ist der Wald längst wieder undurchdringlich.
Nach stundenlanger Autofahrt erreichen wir unser Ziel: Hoi An, seit 1999 UNESCO-Weltkulturerbe. Der Handel mit Seide, Baumwolle, Papier und Porzellan ließ Handwerk und Kunstgewerbe schon vor Jahrhunderten aufblühen und so wurde Hoi An zur bedeutendsten Hafenstadt Südostasiens. Viel historische Bausubstanz ist erhalten, darunter die Japanische Brücke, die ein bisschen an die Ponte Vecchio in Florenz erinnert. Aber auch uralte japanische und chinesische Handelshäuser sind zu bestaunen.
Tag 10 bis 12: Saigon, eine Stadt zum Hassen
In mein Tagebuch notiere ich gleich nach der Ankunft: „Gut, dass ich diese Stadt gegen Ende meiner Reise kennenlerne, denn sie ist so furchtbar, dass mir die Heimkehr leicht fallen dürfte. Müsste ich hier leben, würde ich mich umbringen.“ Tatsächlich könnten die beiden Millionenmetropolen Hanoi und Saigon unterschiedlicher nicht sein. Hanoi – das ist Kultur. Saigon dagegen ist eine gesichtslose, boomende Metropole, in der gläserne Wolkenkratzer nur so in die Höhe schießen. Wem schon Hanois Straßenverkehr chaotisch vorkam, der wird in Saigon wahnsinnig werden: Es gibt 800.000 Autos, vor allem aber acht Millionen Mopeds in der Stadt, die gefühlt alle rund um die Uhr unterwegs sind.
Ein bisschen was Historisches hat aber auch Saigon zu bieten: das alte, von den Franzosen erbaute Rathaus etwa, die Kirche Sacré-Cœur und das Hauptpostamt, das das schönste Asiens sein soll und dessen Eisenkonstruktion auf keinen Geringeren als Gustave Eiffel zurückgeht. Im Inneren der Halle, direkt über der riesigen Uhr, prangt ein Porträt von Ho Chi Minh. Rechts und links sind die Schalter, an denen Beamte Pakete und Briefe entgegennehmen.
Und mittendrin sitzt ein 89-jähriger Mann und wartet auf Kundschaft: Duong Van Ngo. Wer nicht schreiben kann oder einen Brief ins Ausland schicken will, aber die Sprache nicht beherrscht, der kommt einfach zu ihm. Ngo kann Französisch, weil die Franzosen das Sagen hatten, als er in die Schule kam. Und von den Amerikanern lernte er Englisch. So hat er immer von den fremden Herren profitiert: Duong Van Ngo ist der letzte „public writer“, also der letzte öffentliche Schreiber der Welt.
Tag 13: Cu Chi und das Tunnelsystem der Vietcong
Von Saigon bis Cu Chi sind es vielleicht 40 Kilometer. Aber angesichts des dichten Verkehrs brauchen wir mehr als zwei Stunden bis zu diesem, sagen wir, „Freizeitpark des Schreckens“. Schon 1948 im Krieg gegen Frankreich bauten die Vietnamesen in Cu Chi Tunnel, in denen sie Waffen, Vorräte und Menschen versteckten. In den 1960er Jahren vergrößerten sie das Tunnelsystem erheblich, bis es schließlich auf eine Gesamtlänge von 200 Kilometern angewachsen war. Eine Stadt ohne Sonnenlicht. Über drei Ebenen verteilt gab es Schulen, Lazarette, Büros, Kantinen und Schlafsäle.
Als die Amerikaner nahe Cu Chi eins ihrer Hauptquartiere errichteten, ahnten sie nicht, dass der Feind direkt unter ihnen lauerte. Die Tunnel erlaubten es den Vietnamesen, die Amerikaner blitzschnell anzugreifen und genauso schnell wieder zu verschwinden. Cu Chi heute: Eine Art Disney Land, wo sich Touristen kichernd davon überzeugen können, wie eng die Tunnel doch sind. Und es darf sogar scharf geschossen werden, mit Original-Waffen. Ein Schuss, ein Dollar. Hier wird der Vietnamkrieg zur Gaudi.
Tag 14 und 15: Das Mekongdelta, die Reiskammer Vietnams
Der Mekong entspringt in Nepal als Rinnsal, schlängelt sich mehr als 4500 Kilometer quer durch Südostasien, und hier, im Süden Vietnams, fächert er sich zum weiten Delta auf, bevor er über neun Hauptarme ins Südchinesische Meer mündet. Das Mekongdelta ist die Reiskammer Vietnams: Die Region ist mit 40.000 Quadratkilometern etwa so groß wie die Schweiz. 18 Millionen Einwohner, davon leben drei Viertel von der Landwirtschaft.
Dreimal jährlich wird Reis geerntet. Die fruchtbaren Böden des Flussdeltas machen es möglich. Daneben werden Tropenfrüchte, Kokosnüsse und Zuckerrohr angebaut. Wir steigen vom Bus auf das Schiff um und begeben uns in dieses Labyrinth aus schmalen Flussarmen, Kanälen und Inselchen, fahren durch dichte Mangrovenwälder, treffen immer wieder auf schwimmende Märkte. Ein tolles Schauspiel für Mitteleuropäer. Es ist wie ein Markt bei uns, nur dass die Stände mit den Waren auf dem Wasser schwimmen. Und auch die Kundschaft kommt per Boot. Dann wird von Reling zu Reling gefeilscht, Ware gekostet, Geld rübergereicht und das Geschäft per Handschlag besiegelt.
Unsere Reise neigt sich ihrem Ende. Zurück ins Hotel nach Saigon, noch mal durch den Wahnsinnsverkehr und dann zum Flughafen.
Der Abschied tut nun doch weh. Vietnam ist uns in kurzer Zeit sehr ans Herz gewachsen. In gut zwei Wochen haben wir ein Land kennengelernt, das einerseits geprägt ist von wundervoller Natur, das aber andererseits auf dem Sprung zum Industrieland ist. Der Vietnamkrieg, er ist – obwohl er uns noch an vielen Stellen begegnet – Geschichte. Statt Bombenkratern gibt es jetzt Baustellen. Häuser schießen aus dem Boden, Fabriken entstehen. Arbeitskräfte hat das Land genug, schließlich sind von den 100 Millionen Vietnamesen zwei Drittel unter 30.
Vietnam hat vielleicht eine große Zukunft. Aber es lauern Gefahren auf dem Weg dahin. Vor allem für die Umwelt. Der Verkehrsinfarkt in den Städten ist ein großes Problem. Schon jetzt sind die Mopeds so zahlreich, dass sie rund um die Uhr die Straßen verstopfen. Trotzdem kommen noch Monat für Monat 100.000 neue hinzu. Das ist schon furchtbar genug. Nicht auszudenken, was passiert, wenn der Wohlstand weiter wächst und sich die Mopedfahrer Gedanken darüber machen, wie es wohl wäre, Auto zu fahren.