„Mein Herz blutet, wenn ich das sehe“: Warum Deutschland keinen Elfmeter bekam
Es gab viele Gelbe Karten, sehr viele Fouls und harte Tacklings in Minutentakt. Die größte Aufreger-Szene ereignete sich allerdings in der 106. Minute – 13 Minuten, bevor Mikel Merino aus dem Nichts das 2:1-Siegtor für die Spanier köpfte. Es hätte alles anders kommen können, aus Sicht der deutschen Nationalmannschaft, wenn Schiedsrichter Anthony Taylor zu Beginn der zweiten Hälfte der Verlängerung auf Elfmeter für die DFB-Elf entschieden hätte. Doch der Engländer tat es nicht – was Diskussionen, Unverständnis und Wut auslöste. Aber auch Erklärungsversuche. Und Julian Nagelsmann übte Kritik.
Kurz vor dem Abpfiff des EM-Viertelfinals kam es noch einmal aus ARD-Experte Thomas Hitzlsperger heraus: „In neun von zehn Fällen wird auf Elfmeter entschieden“, sagte der Co-Kommentator. „Warum die deutsche Mannschaft hier keinen bekommt, ist mir ein Rätsel.“ Selbes Empfinden hatten die DFB-Kicker auch sofort auf dem Spielfeld.
DFB-Star Musiala schoss Spaniens Cucurella am Arm ab
Nach einer Ablage von Niclas Füllkrug hatte Jamal Musiala aus rund 20 Metern Volley abgezogen – und Spaniens Linksverteidiger Marc Cucurella sichtbar an dessen linken Arm getroffen. Der Aufschrei in der Stuttgarter Arena war riesig, Musiala und Co. protestierten sofort wild. Doch Referee Taylor zuckte zunächst nur mit den Schultern. Und auch der VAR griff nicht ein. Es ging ohne Überprüfung und Elfmeter beim Stand von 1:1 weiter. Und am Ende hieß es eben 1:2 für „La Roja“ statt 2:1 für die deutsche Nationalelf.
ARD-Schiedsrichter-Expertin Bibiana Steinhaus-Webb zeigte während des Spiels Verständnis für Taylors Entscheidung – genauso wie Hamburgs Bundesliga-Schiri Patrick Ittrich. Es sei grenzwertig gewesen, befand der 45-Jährige bei MagentaTV. Weil Cucurella den Arm noch habe zurückziehen wollen, sei das eigentlich offensichtliche Handspiel nicht zwingend strafbar gewesen. Eine 50:50-Szene. Ittrich meinte aber auch: Wenn Taylor direkt auf den Punkt gezeigt hätte, hätte dieser seine Entscheidung auch nicht zurücknehmen müssen. Doch der 45-Jährige war auf dem Platz eben anderer Meinung – und der Assistent sah keine Veranlassung, einzugreifen.
Meinungen der Experten und Ex-Schiris gehen auseinander
Eine mögliche Erklärung ist diese: Vor der Ablage auf Musiala hatte Füllkrug mit seinem Oberkörper möglicherweise um Zentimeter im Abseits gestanden. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Handspiel-Szene aus genau diesem Grund nicht noch einmal am Bildschirm angeschaut wurde. Der VAR könnte Taylor also gesagt haben, dass ohnehin eine Abseitsstellung vorlag – und dass es darum keinen Grund gebe, über die Strafbarkeit des Handspiels nachzudenken. Die Meinungen nach Abpfiff gingen auseinander.
„Das muss mir einer erklären. Klar ist es keine Absicht, aber es ist nicht so, dass der Arm am Körper ist“, sagte ARD-Experte Bastian Schweinsteiger im Live-Fernsehen. „Da hatten wir Riesen-Pech. Mein Herz blutet, wenn ich so etwas sehe.“ Tatsächlich befand sich Cucurellas Arm unterhalb seiner Hüfte, was die Strafbarkeit des Handspiels reduzieren könnte. Tatsächlich hatte Roberto Rosetti, der Schiedsrichter-Chef der UEFA, schon vor der EM angekündigt, dass es in einer Situation wie dieser keinen Elfmeter geben werde. Allerdings wäre Musialas Schuss an diesem Freitagabend eindeutig in Richtung des spanischen Gehäuses geflogen.
Steinhaus-Webb meint: „Keine glasklare Fehlentscheidung“
Steinhaus-Webb lieferte nach dem DFB-Ausscheiden eine etwas längere Erklärung: „Für den Schiedsrichter ist es wahnsinnig schwierig. Er hat sich dafür entschieden, dass es eine relativ natürlich Bewegung ist, die angemessen ist für die Verteidigungshaltung“, so die Ex-Schiedsrichterin in der ARD.
Die 45-Jährige führte aus: „Der Videoassistent kann nicht unterstützen, weil es keine glasklare Fehlentscheidung ist. Die unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche ist das einzige Argument, das wir hier diskutieren können.“ Auf konkrete Nachfrage, ob sie Taylors Entscheidung nachvollziehen könne, sagte Steinhaus-Webb: „Der Spieler hat versucht, die Arme runterzunehmen. Kurze Entfernung, scharfer Schuss. Ich kann es nachvollziehen, denke aber auch, dass eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre.“ Mit einer solchen stünde das Team von Julian Nagelsmann jetzt womöglich im Halbfinale des Heimturniers – und wäre nicht ganz spät ausgeschieden.
Kimmich: „Eigentlich haben wir einen Handelfmeter vor 2:1“
„Eigentlich haben wir noch einen Handelfmeter vor dem 2:1“, kommentierte Joshua Kimmich ebenfalls in der ARD. „Da ist leider sehr viel gegen uns gelaufen.“ Während die DFB-Stars nach dem EM-K.o. vor allem ihre Enttäuschung zum Ausdruck brachten, wurde in den Sozialen Medien heftig über die Leistung des Referees diskutiert. Und auch Julian Nagelsmann äußerte sich noch in der ARD.
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„Ich versuche schon seit Jahren, in allen möglichen Schiedsrichter-Sichtungen die Frage einzubringen, warum man bei keiner Handspiel-Situation bewertet, was aus der Aktion wird“, berichtete der Bundestrainer. „Ich mache ein Beispiel: Wenn der Jamal den Ball in den Mittelrang schießt und der Spieler von Spanien kriegt den Ball dahin (an die Hand, d. Red.), dann will ich dafür keinen Elfmeter. Denn es ist keine riesen-unnatürliche Bewegung. Wenn der Ball aber klar aufs Tor geht, dann stoppt er ihn mit der Hand. Das ist Fakt und das sieht man.“
„Das kann ich nicht nachvollziehen“: Was Nagelsmann stört
Nagelsmann räumte ein, dass Cucurella das Handspiel „nicht mit Absicht“ gemacht hätte. „Das spielt aber keine Rolle“, befand der DFB-Coach und fügte an: „Das finde ich total skurril im Fußball, dass die Intention der Aktion null bewertet wird – und dass es einfach nur darum geht: Ist der Ball jetzt an der Hand oder nicht?“
Nagelsmann erinnerte sich auch noch mal an das Achtelfinale gegen Dänemark (2:0), in dem seine Mannschaft nach einer Flanke von David Raum einen Strafstoß bekommen hatte – weil Joachim Andersen das Leder leicht mit seinen Händen touchiert hatte. „Da ist eine Flanke gegen Dänemark, wo wir einen Elfmeter kriegen, deutlich weniger ein Elfmeter als das hier, weil der Ball zunächst klar aufs Tor geht – und dann nicht aufs Tor geht, weil der Spieler ihn mit der Hand stoppt“, meinte Nagelsmann. „Und dass man das nicht reinkriegt im Fußball, das zu bewerten, wo der Ball hinfliegt, wenn ich 48.000 Wiederholungen habe – das kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen.“