Rauch-Alarm, VAR-Chaos, Tor-Show! St. Pauli nach irrem Remis „sauer und stolz“
Ein Feuerwerk auf der Tribüne, ein Feuerwerk auf dem Rasen, aber wieder keine Feierlaune beim FC St. Pauli nach dem letzten Spiel des Jahres. In einem verrückten Schlagabtausch trennten sich die Kiezkicker vom Karlsruher SC im Wildpark mit 4:4 (3:3). Den ersehnten Sieg und Befreiungsschlag haben die Kiezkicker verpasst, holten aber dreimal einen Rückstand auf, bewiesen Offensivkraft, Torgefährlichkeit und große Moral. Dennoch überwintern die Hamburger im Tabellenkeller.
Auch eine halbe Stunde nach Schlusspfiff hatten die Beteiligten Probleme, den vorangegangenen Wahnsinn auf dem Rasen zu sortieren und richtig einzuordnen. „Ein Fazit fällt mir heute echt schwer“, bekannte St. Pauli-Trainer Timo Schultz nach dem irren Kick vor 21487 Zuschauenden. „Heute bin ich gleichzeitig sauer und stolz auf mein Team.“
FC St. Pauli mit irrem Remis beim Karlsruher SC
Vier Tore – Rekord in dieser Saison für die Braun-Weißen in der Liga. Das gilt aber auch für die vier Gegentore.
Der Punkt ist für den Kiezklub angesichts der Tabellensituation eigentlich zu wenig. 17 Zähler nach 17 Spielen sind eine enttäuschende Ausbeute. St. Pauli ist seit nunmehr fünf Spielen in Serie sieglos, bleibt in der Hinrunde ohne Auswärts-Dreier und überwintert im Keller.
Johannes Eggestein schießt zwei Tore – „ein wilder Ritt“
„Das war ein wilder Ritt“, meinte Doppel-Torschütze Johannes Eggestein nach der hochintensiven und spektakulären Partie. „Auf der einen Seite sind wir sauer, dass wir einfache Gegentore bekommen haben.“ Er nannte die Gastgeschenke auch „dumme Gegentore“, zu Recht. „Auf der anderen Seite ist es aber auch positiv, dass wir immer wieder zurückgekommen sind.“
Der Wahnsinn hatte schon vor dem Anpfiff begonnen. Die KSC-Ultras veranstalteten kurz vor Anpfiff ein üppiges Feuerwerk, was den Innenraum des Stadions komplett verrauchte. Fatal wirkte sich hierbei der starke Nebel in der Region aus, der ein schnelles Abziehen des dicken Rauches verhinderte. Von der Tribüne aus war nur ein undurchdringliches Grau zu sehen, kein Rasen.
Ultras des KSC sorgen mit Pyro-Show für Spielverzögerung
„Ich persönlich finde Pyro ganz gut, wenn es kontrolliert passiert“, meinte Schultz später, attestierte den Karlsruher Stadionbauern, deren neue Arena im Juli 2023 fertig sein wird, dann augenzwinkernd bauliche Defizite und empfahl: „Ihr müsst hier mal eine Art Dunstabzugshaube einbauen. Bei uns am Millerntor wäre der Rauch sofort abgezogen.“
Erst mit einer viertelstündigen Verzögerung konnte angepfiffen werden – und die Mannschaften hatten die ganze Zeit auf dem Platz in der Kälte gestanden und versucht, sich mit kurzen Läufen und warmzuhalten. Das gelang den Gästen ganz offensichtlich besser.
Mit einem Knalleffekt starteten die Kiezkicker in das Hinrundenfinale. Nach einer perfekten Flanke von Jackson Irvine in den Sechzehner köpfte Lukas Daschner den Ball gekonnt auf Marcel Hartel, der den Ball volley aus 14 Metern an die Latte schoss (6.).
St. Pauli dominiert den Start, aber liegt früh 0:2 zurück
St. Pauli spielte die „besten ersten 20 Minuten der Saison“, wie Schultz lobte, „und es steht 2:0 – aber nicht für uns“. Weil seine Mannschaft den KSC mit individuellen Fehlern und auch kollektivem Defensivversagen zum Toreschießen einlud und einer verunsicherten Mannschaft, die zuvor fünf Niederlagen in Serie kassiert hatte, mächtig Starthilfe gab. Schleusener (12.) und Wanitzek (16.) bedankten sich.
Das hätte einer Mannschaft das Genick brechen können, doch die Kiezkicker brachen nicht auseinander, sie sammelten sich und spielten weiter mutig und druckvoll nach vorne erarbeiteten sich Chance um Chance.
VAR-Chaos bei Eggestein-Tor, Schiedsrichter Lechner lässt St. Pauli zappeln
Absurd wurde es St. Paulis Anschlusstreffer durch Eggestein, der einen unplatzierten Schuss von Lukas Daschner per Abstauber ins Netz beförderte (24.). Während die Kiezkicker jubelten, zögerte Schiedsrichter Florian Lechner zunächst, auf den Anstoßpunkt zu zeigen, diskutierte mit einigen Spielern der Hamburger und offensichtlich auch mit dem Videoassistenten in Köln.
VARnsinn. Lechner hob dann den Arm, als signalisiere er eine Abseitsstellung, revidierte dies dann wieder mit einer Handbewegung, malte dann mit den Händen ein Quadrat in die Luft zum Zeichen des Videobeweises, rannte zur Seitenlinie und schaute sich die Wiederholung der Szene an – unter Pfiffen und wütenden „Fußball-Mafia DFB“-Rufen aus beiden Fankurven.
St. Pauli schläft und schenkt dem KSC die 3:1-Führung
4:15 Minuten dauerte der Heckmeck. Mehr als vier Minuten zwischen dem Tor und der finalen Entscheidung, dass es tatsächlich eines war. „Ich war mir die ganze Zeit sicher, dass es ein reguläres Tor war“, sagte Eggestein später. Der Referee habe das VAR-Chaos ihm gegenüber mit einem Missverständnis zwischen ihm und dem Kölner Keller sowie technischen Problemen erklärt.
Weniger als vier Minuten dauerte es nach dem Karlsruher Anstoß, bis der Ball erneut Netz des Hamburger Tores zappelte (31.) – wieder war es Schleusener, der blitzschnell geschaltet hatte, weil St. Paulis Hintermannschaft bei einem schnell ausgeführten Einwurf des KSC in einem kollektiven Sekundenschlaf war.
Timo Schultz lobt die Moral seiner Kiezkicker
„Lasst uns lieber über die Tore sprechen, die wir selbst geschossen haben“, wollte Schultz den Mantel des Schweigens über die Art und Weise der Gegentore hüllen. Er hob das Aufbäumen seiner Mannen nach den Nackenschlägen hervor.
„Da dann noch mal zurückzukommen und das Herz so auf den Platz zu lassen und auch auf dem Acker spielerische Lösungen zu finden und sich Chancen zu kreieren und sie zu verwerten, macht mich stolz“, so Schultz.
Der starke Eggestein war es, der mit einem platzierten Schuss nur vier Minuten später den erneuten Anschlusstreffer erzielte und Eric Smith gelang kurz vor der Pause sogar noch der verdiente 3:3-Ausgleich (43.). Der schwedische Aushilfs-Abwehrchef stand nach einer Ecke und einem Kopfball von Marcel Beifus, der das Tor verfehlt hätte, goldrichtig am langen Pfosten und schoss ein.
Lukas Daschner trifft für St. Pauli zum Endstand
Stehaufmänner – das waren die Kiezkicker an diesem denkwürdigen Samstagnachmittag. Auch von der erneuten Karlsruher Führung, der dritten, durch Mikkel Kaufmann (49.), der bei seinem Tor zum 4:3 auf der rechten Seite und dann im Strafraum viel zu viel Platz und Zeit hatte, ließ sich das Schultz-Team nicht aus der Bahn werfen, blieb in der Spur, agierte weiter im Vollgasmodus und suchte weiter spielerische Lösungen – und fand diese, wie das mit einem sehenswerten Doppelpass zwischen Lukas Daschner und Eggestein (per Hacke!) inszenierte 4:4 durch Erstgenannten (61.).
„Wir haben die Mentalität. Das haben wir schon öfters bewiesen“, betonte Daschner, der im letzten Spiel vor der WM-Pause anstelle von David Otto, der beim 0:0 gegen Kiel begonnen hatte, in die Startelf gerückt war. „Natürlich hätten wir gerne drei Punkte geholt, doch das hat der Spielverlauf nicht hergegeben.“
Timo Schultz mit dem wilden Remis „bedingt zufrieden“
In der Schlussphase spielten beide Mannschaften auf Sieg, hatten noch einige Chancen, aber konnten die Abschlüsse nicht im Tor unterbringen. Dem eingewechselten Luca Zander wäre in der Nachspielzeit beinahe der Siegtreffer gelungen, den KSC-Keeper Marius Gersbek vereitelte.
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Alles in allem war Schultz mit dem achten Remis der Saison „bedingt zufrieden“, sagte aber auch: „Wir nehmen den Zähler, der uns, auch wenn es nur ein Punkt ist, in der Tabelle guttut, mit nach Hamburg.“ Daschner sah es ähnlich. „Jeder Punkt ist aktuell wichtig.“ Vor allem, wenn man davon viel zu wenige auf dem Konto hat.
Marcel Hartel von St. Paulis Hinrunde „enttäuscht“
Von St. Paulis Hinrunde sei er „natürlich enttäuscht“, bilanzierte Marcel Hartel kurz vor der Abreise der Mannschaft aus Karlsruhe. „Wir haben uns mehr vorgenommen als das, wo wir gerade stehen. Jetzt müssen wir in der Winterpause den Kopf frei bekommen und uns dann mit vollem Fokus auf die Rückrunde vorbereiten.“