Jubeltraube des FC St. Pauli
  • Eingeschworener Haufen: Der FC St. Pauli marschiert durch die zweite Liga.
  • Foto: IMAGO / Fotostand

Marsch durch die 2. Liga: St. Pauli, ein Fußballmärchen

Die Kiezkicker rocken die Zweite Liga, spielen erfolgreich und auch noch schön. Lobeshymnen von den Gegnern. Eine echte Auferstehung.

Der FC St. Pauli thront an der Tabellenspitze der vermeintlich stärksten, definitiv aber attraktivsten Zweiten Liga aller Zeiten. Den aufregendsten und schönsten Fußball spielen die Kiezkicker – mit einer hungrigen Mannschaft voller starker Typen, einem ebenso fähigen wie sympathischen Trainer-Eigengewächs an der Seitenlinie und in einem nachhaltigen Trikot aus vereinseigener Herstellung. Fast jedes Spiel ein Spektakel, die Fans entzückt, die Konkurrenz voll des Lobes und sogar HSV-Hardliner zollen zähneknirschend Respekt und blicken neidvoll in Richtung Kiez. Fast zu schön, aber doch ein wahres Fußball-Märchen.

Noch vor einem Jahr lag St. Pauli am Boden

Es war einmal… So beginnen klassische Märchenerzählungen. Und diese Einleitung passt perfekt, wenn man die aktuelle Erfolgsgeschichte des FC St. Pauli erzählen will, vom sagenhaften Aufstieg, dem Höhenflug, der – mit jedem Sieg wächst der Glaube daran – in der Bundesliga enden könnte. Zu jedem guten Märchen gehört eine gute Portion Düsternis. Davon gab es reichlich.

Vor gar nicht allzu langer Zeit, zur Jahreswende, vor rund 300 Tagen, da war St. Pauli ganz unten. Tabellenplatz 17. Wie eine Eisenkugel am Bein. Einfach nicht abzuschütteln. Ein Tiefpunkt jagte den nächsten. Neun Pünktchen nach 13 Spielen. Zehn Spiele in Serie ohne Sieg. Es sollten derer noch 13 werden. Abstiegsangst. Existenzangst. Zielscheibe.

St. Pauli: Nachhaltig in die Bundesliga?

Zu allem Überfluss hatte St. Pauli sechs Wochen zuvor verkündet, künftig mit einer eigenen Sportkollektion, die nach eigener Auskunft in Sachen Nachhaltigkeit neue Maßstäbe setze, sein eigener Ausrüster zu werden. Ein wichtiger Schritt, aber das Timing war unglücklich wie ein Eigentor. Scharfe Kritik und beißender Spott – durchaus auch aus dem eigenen Fan-Lager – ließen nicht lange auf sich warten.

Nachhaltig in die Dritte Liga! So wurde geätzt. St. Pauli kümmere sich mal wieder um alles, nur nicht um Fußball. Und mal wieder ertönte das vielstimmige Lied vom Modelabel mit angeschlossener Fußballabteilung, wahlweise vom Politbüro mit leidlich talentierter Kicker-Genossenschaft und so weiter und so fort und – nach St. Paulis System-Update – so falsch.

Kiezkicker knacken Rekord um Rekord

Selten stand der Fußball bei St. Pauli derart im Fokus wie in diesen Tagen und Wochen und die Kiezkicker liefern Spieltag für Spieltag verlässlich neuen Gesprächsstoff, neue Rekorde, Bestmarken. Irgendwas Historisches ist immer. Der frenetisch gefeierte 4:0-Sieg gegen Erzivale Rostock am Millerntor war der sechste Heimsieg in Serie – das gab es bei St. Pauli zuletzt vor 27 Jahren. Aber sechs Heimsiege in der ersten sechs Heimspielen – das gab es noch nie. Fünfter Sieg in der Liga in Folge – da war mal was in den 70er Jahren.

25 Punkte nach elf Spieltagen – gab es bei St. Pauli in 30 Zweitliga-Jahren noch nie. Das gilt auch für den Torhunger. Im fünften Spiel nacheinander haben die Kiezkicker mindestens drei Tore erzielt. Mit 27 Toren stellt St. Pauli die beste Offensive der Liga und mit zehn Gegentoren die zweitbeste Defensive.


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War noch was? Ach ja. In der Jahrestabelle 2021 rangiert St. Pauli mit 64 Punkten aus 33 Spielen weit vor der Konkurrenz. Das gilt auch für die 20 Siege, fünf mehr als das Team mit dem zweitmeisten Dreiern. Nackte Zahlen, beeindruckende Statistiken, bei denen sich so mancher Fan kneifen muss, dass es sich dabei um seinen Verein handelt. Den FC St. Pauli.

Es geht längst nicht nur darum, dass die Braun-Weißen in Serie siegen, Rekorde knacken und aufstellen, sondern auch um das Wie. Fans, die seit Jahrzehnten ans Millerntor pilgern, versuchen sich zu erinnern, ob sie schon einmal eine St. Pauli-Mannschaft derart sehenswert, ja schön, haben spielen sehen. Wer nach einem Heimspiel das Stadion verlässt, der begegnet rund um das Millerntor, vor den Kneipen in den angrenzenden Straßen oder in der U-Bahn Menschen mit leuchtenden Augen.

FCSP: Vertrauen in Timo Schultz zahlt sich aus

St. Pauli, ein Fußballverein, für die meisten Fans auch ein Lebensgefühl, klar, für manche die einzige Möglichkeit. Aber jetzt auch verdammt geiler Fußball. Über den die Stadt redet. Und der weit darüber hinaus Thema ist. 

Trainer Timo Schultz hat mit seiner Mannschaft und seinem jungen Trainerteam einen offensiven Spielstil kreiert und kultiviert, dem in seiner jetzigen Form und Güteklasse kaum ein Gegner widerstehen kann. Bei anderen Vereinen wäre Schultz vermutlich gar nicht mehr im Amt.

Entgegen der Gesetze und Gepflogenheiten der Branche hielt man auch in der schlimmsten Niederlagenserie am Trainer, der im Sommer 2020 vom Jugendcoach zum Profi-Chef befördert worden war, fest. Aus Überzeugung. Und weil man nicht schon wieder einen Coach vor die Tür setzen – und damit dem HSV Konkurrenz machen wollte. Schultz hat eindrucksvoll bewiesen, dass er das Vertrauen wert ist. Mehr als das.

Bornemann als Baumeister des neuen St. Pauli

Und dann ist da noch Andreas Bornemann, der Baumeister. St. Paulis Sportchef hat in vier Transferperioden den Kader nahezu komplett umgebaut und ein schlagkräftiges Team zusammengestellt, das sowohl in der Spitze und noch mehr in der Breite allen Anforderungen gewachsen ist und für höchste Ansprüche taugt – auch wenn das A-Wort noch nicht zum Sprachgebrauch gehört. Bei seiner Spielerwahl hat Bornemann ein fast schon unverschämt gutes Händchen bewiesen und es würde den Rahmen sprengen, um jeden guten Griff aufzuzählen.

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Auswahl gefällig? Kyereh, Medic, Irvine, Aremu, Dittgen… nicht zu vergessen: den unvergleichlichen Guido Burgstaller, St. Paulis Tormaschine. Der Vollprofi. Der Bessermacher. „Momentan sind wir auf jeden Fall eine Spitzenmannschaft“, sagt Burgstaller. „Es ist nur die Frage, ob wir das Level halten können. Und dann werden wir sehen, was am Ende rauskommt.“

Dieses Märchen ist noch lange nicht vorbei. Und wer den FC St. Pauli spielen sieht, der ist überzeugt: Das Beste kommt erst noch!

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