EM-Legende Kuntz erzählt: So war es, als ich gegen England in Wembley traf
Gerade erst führte Stefan Kuntz die U21 des DFB als Trainer zum Europameistertitel. 1996 durfte der frühere Angreifer mit dem A-Team selbst jubeln – und erlebte in Wembley die Tage seines Lebens. Vor der Neuauflage des Klassikers gegen England erinnert sich der 58-Jährige in der MOPO an sein Karriere-Highlight.
Von Stefan Kuntz
Mit den Spielen in Wembley erfüllte sich mir ein absoluter Kindheitstraum. Aber vorweg muss man wissen: Ich bin recht spät zum Nationalspieler geworden und dadurch dann auch 1996 zur EM gekommen. Wembley war für mich, seit ich ein Kind war, der Tempel des Fußballs. Bei uns zu Hause war immer vom Wembley-Rasen oder der Wembley-Stimmung die Rede. Und jetzt war ich da!
„Als ich in die Kabine kam, war ich erstmal enttäuscht“
Es war noch das alte Stadion, wir wussten, dass es abgerissen werden würde. Als ich dann in die Kabine kam, war ich erstmal total enttäuscht, denn es sah dort natürlich auch wirklich wie in einem alten Stadion aus. Da gab es keine Entspannungspools, sondern sechs, acht Badewannen, noch mit Füßen dran, richtig alt. Der Rasen auf dem Platz war okay. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte, denn wir haben vorher im Old Trafford in Manchester ja schon auf einem richtigen Teppich gespielt, das war ohnehin schwer zu toppen. Dann sah ich die Tribünen mit den alten Bänken. Ich muss sagen: Nach dem Abschlusstraining war ich leider wirklich ein bisschen enttäuscht.
Das drehte sich total, als wir dann am nächsten Tag zum Spiel gefahren sind. Als wir das Stadion erreichten und die Zuschauer uns sahen, ging die Stimmung sofort nach oben – und dann begann es auch für mich so richtig. Niemals zuvor oder danach habe ich mich 30 Minuten lang durchgehend mit einer Gänsehaut aufgewärmt. Das war das pure Wembley-Feeling! Ich glaube, ich habe mich mehr umgeschaut als warmgemacht. Ich wollte diese Stimmung um mich herum unbedingt aufsaugen.
„Bei aller Demut war ich richtig stolz auf mich“
Wir gerieten dann in Rückstand und ich konnte zum 1:1 ausgleichen. Man muss wissen, dass ich nicht zu den Topstars der Nationalmannschaft gehörte, wir hatten viele Spitzenspieler mit international tollem Ruf. Das Tor war dann aber ein typisches Kuntz-Tor. Ich habe nicht mit zwei Übersteigern vier Spieler stehen lassen, sondern das Tor mit Instinkt erzielt. Und bei aller Demut war ich dann richtig stolz auf mich, dass mir in Wembley, in meinem Tempel der Jugend und dann auch noch gegen England, ein Tor gelungen ist.
Aber das war ja noch nicht das Ende. Das Elfmeterschießen wartete noch. Und da habe ich mich total verzockt. Es gibt ja den Mythos, dass die Engländer nicht ganz so gut Elfmeter schießen können. Also bin ich auch wegen meines Tores mit großer Klappe und reichlich Selbstvertrauen zu unserem Trainer Berti Vogts gegangen und habe ihm gesagt: Ich schieße den fünften Elfmeter! Ich dachte, ich wäre schlau, denn ich war mir sicher, dass die Engländer gar nicht bis zum fünften Strafstoß kommen. Von wegen! Als dann ihr fünfter Schütze verwandelte und ich die 30 Meter von der Mittellinie zum Strafraum laufen musste, mein lieber Scholli! Da ging mir schön die Klammer, wie wir im Saarland sagen. Aber mir hat eines geholfen: Wenn ich Angst habe, versuche ich, ihn durch Zorn zu ersetzen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie meine Kinder am nächsten Tag im Schulbus sitzen und ausgelacht werden, weil ihr blöder Vater durch einen verschossenen Elfmeter das deutsche Aus besiegelt hat. Diese Wut habe ich dann auf das Trikot von Englands Torhüter David Seaman projiziert, denn er wollte meinen Kindern ja Schmach und Schande bringen. Ich habe vor lauter Zorn dann sogar hoch geschossen, obwohl ich flach schießen wollte. Ich konnte nicht mal richtig jubeln, so zornig war ich.
„Tage in Wembley, die ich nie vergessen werde“
Wenig später durften wir alle jubeln. Da war unser Sieg in Wembley gegen England vollbracht. Und zur Krönung haben wir uns dann vier Tage später an gleicher Stelle gegen Tschechien zum Europameister gekürt. Tage in Wembley, die ich niemals vergessen werde.