Franz Beckenbauer: der Kaiser, der schweben konnte
Der letzte deutsche Kaiser ist tot. Die ganze Welt trauert um Sport-Ikone Franz Beckenbauer, der am Sonntag im Alter von 78 Jahren verstorben ist, wie seine Familie mitteilte. Einer der besten Fußballer aller Zeiten, Weltmeister als Spieler und Trainer, Zauberer am Ball, nicht immer unumstrittende Kultfigur abseits des Rasens. Ein MOPO-Nachruf auf Kaiser Franz.
In seinen größten Momenten entzog er sich der Schwerkraft. Dann spielte der junge Franz Beckenbauer den Fußball mit einer Leichtigkeit dorthin, wo es seiner Mannschaft (und womöglich sogar dem Ball) am besten gefiel. Und im Zweifel Gerd Müller da war, um mal wieder einzunetzen.
Dann schritt der Trainer Franz Beckenbauer in mittleren Jahren 1990 einsam über den Rasen des römischen Olympiastadions, auf dem seine Mannschaft gerade Weltmeister geworden war. Als ob alles um ihn herum stillstünde und es kein Gestern oder Morgen gäbe, sondern nur das Hier und Jetzt in der Ewigen Stadt.
Dann schwebte der schon ältere Franz Beckenbauer als Organisationschef der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland in einem Hubschrauber von Spiel zu Spiel. Ein Thron in den Wolken, der nur einem Kaiser zustehen konnte.
Beckenbauer wächst in Nachkriegs-München auf
Als Franz Beckenbauer am 11. September 1945 geboren wird, ist Deutschland gerade vier Monate von der Nazi-Herrschaft befreit. „Wir sind in München-Giesing über Wiesen gerannt, auf denen Granaten eingeschlagen waren“, hat er sich einmal erinnert. Der Sohn eines Postbeamten zeigt früh seine Fußballbegabung und führt den SC München 06 mit 13 bei einem Jugendturnier zum Sieg gegen die Bayern, zu denen er prompt wechselt. Als der Mittelläufer in seiner neuen Mannschaft ausfällt, übernimmt Beckenbauer – und funktioniert die Position nach und nach zum Libero um, einem „freien Mann“ ohne zugeordnetem Gegenspieler, der defensiv denkt und offensiv handelt.
In Deutschland gibt es so etwas noch nicht. Freiheit auf dem Fußballplatz? Das können vielleicht die Brasilianer, aber nicht mit uns – hier herrscht Disziplin, Zucht und Ordnung! Aber doch nicht mehr ganz. Es sind die sechziger Jahre, in denen sich die westdeutsche Gesellschaft wandelt – und der spätere CSU-Amigo spielt den Deutschen eine ungezwungene Melodie auf dem Platz vor. Lange bevor Günter Netzers mehr oder minder langen Haare in den Siebzigern zum Symbol des mehr oder minder großen gesellschaftlichen Umbruchs werden.
Beckenbauer arbeitete kurz als Sachbearbeiter
Beckenbauer ist (wie Netzer) kein Revoluzzer. Er ist ein Kind der Mittelschicht in einer Zeit, in der es für Berufsfußballer erstmals richtig Geld zu verdienen gibt. Lange nicht so viel wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo heutzutage, aber viel, viel mehr, als der Sachbearbeiter einer Versicherung in der Kfz-Abteilung bekommt, der Beckenbauer für kurze Zeit auch ist.
1966 zahlt eine Tütensuppenfirma ihm 12.000 Mark für einen Werbespot, in dem er der Fernsehgemeinde „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch“ empfiehlt. Bald wird er aufgrund seiner erhaben wirkenden Spielweise „Kaiser“ genannt, auch weil viele Deutsche sich immer noch ein wenig nach einem Kaiser sehnen, zumal einem, der keine Soldaten mit Mordbefehl in die Welt hinausschickt. Als Beckenbauer im September 1965 beim 2:1 in Schweden in der Nationalmannschaft debütiert hat, fordert Siegtorschütze Uwe Seeler ihn auf: „Franz, komm zum HSV, dann werden wir auch Deutscher Meister!“
Das wird noch bummelige anderthalb Jahrzehnte dauern, aber 1982 gewinnt Beckenbauer seinen letzten deutschen Meistertitel tatsächlich mit dem HSV, bei dem der ältere Seeler längst nicht mehr spielt. Dazwischen hat er mit Bayern München vier deutsche Meisterschaften und vier Europapokale gewonnen, ist 1972 mit der DFB-Elf Europameister geworden und wird 1974 zum ersten Menschen, der den FIFA-Weltpokal überreicht bekommt. Zweimal wählen ihn Europas Journalisten zum besten Fußballer des Kontinents. Danach wird er mit New York Cosmos dreimal US-Meister.
Beckenbauer entfachte keine Begeisterung bei den Fans
Und doch – die Leidenschaft der Massen entfacht er nicht. Dem Kaiser wird mit Respekt und Ehrfurcht begegnet, manchmal auch mit Neid. Dem großen Pelé geht es in seiner Heimat Brasilien ähnlich. „Ich war nie einer, nach dem sie geschrien haben. Ich war kein Uwe Seeler, dessen Vorname ganze Tausend-Mann-Chöre in Atem hielt. Ich habe immer vor einem Publikum gespielt, wie es im Museum zu finden ist …“, schreibt Beckenbauer in seiner Autobiografie „Einer wie ich“: „Mich haben sie immer für arrogant gehalten. Ich weiß nicht warum, ich habe mich immer angestrengt. Ich war auch verrückt, berauscht und verzweifelt, wie es gerade kam, aber ich habe nichts sichtbar machen können.“
Das ändert sich erst, als er 1984 nach dem Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft zum Teamchef der deutschen Nationalmannschaft gekürt wird. Es ist eine Mixtur aus Charme und Instinkt, die die Menschen für ihn einnimmt. Alles scheint so einfach, wenn Beckenbauer spricht. Schließlich redet er in kurzen, klaren Sätzen. „Gehts raus und spielts Fußball“ als (freilich nicht einzige) Anweisung an seine Kicker bei der Weltmeisterschaft 1990 ist zu einer legendären Phrase geworden.
Fußball-Deutschland hängt an seinen Lippen. „Wenn er erklärt, dass der Ball eckig ist, dann glauben ihm das alle“, spottet Otto Rehhagel einmal. „Von Beckenbauer war es auch wichtig zu wissen, ob er sich elektrisch oder nass rasiert, ob er auf dem Bauch oder auf dem Rücken schläft, ob er das Morgenei mit dem Löffel aufhämmert oder mit dem Messer köpft“ – dieser Satz stammt nicht aus der Zeit der Heim-WM-Euphorie 2006, sondern findet sich schon 1975 in Beckenbauers Autobiografie.
Heim-WM wird für Beckenbauer vom Segen zum Fluch
Weltmeister geworden, Weltmeister gecoacht, Weltmeisterschaft ins eigene Land geholt – ein einmaliger Hattrick. Kein Wunder, dass das Sommermärchen 2006 um ihn kreist. „Irgendwann erreicht jeder seinen Höhepunkt, meiner ist jetzt“, kommentiert er den nationalen Tanz um Franz. Er selbst tanzt in den Wolken, per Hubschrauber lässt er sich zu 46 WM-Spielen fliegen. Deutschland ist Hase, Beckenbauer der Igel. Immer schon da.
Kaum jemand ahnt da, dass der Kaiser mit den Rotorblättern der Sonne zu nah gekommen ist. Die mutmaßliche, wenngleich nicht gerichtsfest nachgewiesene Bestechungsaffäre rund um die WM in Deutschland lässt sein Ansehen schmelzen wie das Wachs des mythischen Überfliegers Ikarus in der Sonne.
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Beckenbauer zieht sich in den Schatten zurück, nach Südafrika und Salzburg. Das Alter fordert Tribut. Zur Dauer-Krise des deutschen Fußballs meldet er sich nicht mehr zu Wort. Mit der Wiederbeschwörung der „deutschen Tugenden“ rund um den DFB-Sieg bei der U17-WM 2023 erlebt jedoch auch ein Beckenbauer-Zitat eine Renaissance. „Wir haben das Zaubern und den schönen Fußball noch nie erfunden“, sagte er einst als Teamchef: „Der Deutsche muss arbeiten, um erfolgreich zu sein.“
Beckenbauers großes Verdienst bleibt, dass sein Spiel uns dies oft genug vergessen ließ. Grüß Gott, Kaiser Franz!