An HSVH-Talent Leif Tissier war auch Stefan Kretzschmar schon interessiert.
  • An HSVH-Talent Leif Tissier war auch Stefan Kretzschmar schon interessiert.
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So schätzt Handball-Ikone Kretzschmar die Chancen des HSV Hamburg ein

Er kennt die Bundesliga wie seine Westentasche und ist seit Jahren der Experte Nummer eins für seinen Sport. Vor dem Start der neuen Saison analysiert Handball-Ikone Stefan Kretzschmar (48) exklusiv in der MOPO den Aufsteiger HSV Hamburg, der am Mittwoch mit dem Heimspiel gegen Göppingen startet.

Kretzschmar schätzt Stärken und Schwächen des Teams sowie Chancen und Perspektiven des Vereins ein und wagt eine Prognose für den Liga-Neuling. Der Sportchef der Füchse Berlin, die Anfang Oktober im Pokal in Hamburg antreten, verrät zudem, auf welchen Spieler des HSVH er besonders gespannt ist.

MOPO: Hamburg ist zurück auf der Bundesliga-Landkarte. Ein Grund zur Freude?

Stefan Kretzschmar: Hamburg ist ohne Frage ein toller Handball-Standort, nicht zuletzt aufgrund des traditionsreichen Final-Four-Turniers im DHB-Pokal. Ich persönlich freue mich, dass der neue HSV wieder in der Ersten Liga spielt. Ohne anderen Vereinen zu nahe treten zu wollen: Hamburg ist eine Bereicherung für die Liga. Das sage ich auch als Konkurrent – und diese Meinung habe ich sicher nicht exklusiv.

Welche Rolle wird der Handball Sport Verein Hamburg im ersten Jahr spielen?

Für den HSVH wird es vom ersten Spieltag ein Kampf um den Klassenerhalt sein. Da sollte sich niemand etwas vormachen. Jeder beschissene Punkt zählt, egal gegen wen. Ich traue Hamburg die eine oder andere Überraschung gegen einen Favoriten zu, aber das sind Bonuspunkte.

„Jeder Punkt zählt“: Handball-Legende Kretzschmar glaubt an den HSV Hamburg

Entscheidend sind die Duelle gegen direkte Konkurrenten. Die muss man als solche annehmen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie schwer es für Aufsteiger ist, sich zu halten. Der Sprung von der Zweiten in die Erste Liga ist gewaltig.

Was ist der größte Unterschied?

Das Spiel bleibt das gleiche, aber Physis und Athletik sind in der Bundesliga noch mal auf einem ganz anderen Niveau. Next Level. Vereinfacht gesagt: Die Gegenspieler sind nicht entweder groß und kräftig oder aber schnell, sondern beides. Es ist eine ganz andere Wucht auf dem Parkett. Darüber hinaus ist die Leistungsdichte so hoch wie in keiner anderen Liga der Welt. Es gibt schwere Spiele – und noch schwerere. Und natürlich sind in der Bundesliga jede Menge Weltklassespieler unterwegs, die Spiele entscheiden können.

Ist die Mannschaft des HSVH stark genug für den Klassenerhalt?

Das Grundgerüst ist eine homogene Mannschaft, wo jeder alles gibt und sich den Arsch aufreißt. Der Aufstieg kam für mich ehrlich gesagt überraschend, denn ich hatte den HSVH vor der Saison nicht zu den größten Favoriten gezählt, aber Toto (Trainer Torsten Jansen; die Red.) hat eine echte Einheit geformt, ein starkes Kollektiv. Ich finde es gut, dass die Mannschaft im Großen und Ganzen zusammengehalten wurde, schließlich haben die Jungs den Aufstieg geschafft.

Hat sich Hamburg ausreichend verstärkt?

Meiner Meinung nach schon. Die Trumpfkarte Nummer eins ist Jogi Bitter. Ohne einen starken Torwart hast du in der Bundesliga keine Chance. Das ist die wichtigste Position. Jogi war jahrelang quasi die Lebensversicherung des TVB Stuttgart und jetzt wird er es für Hamburg sein. 

Bitter ist 39 Jahre alt. Glauben Sie, dass er die Topform der vergangenen Jahre halten kann?

Da habe ich bei Jogi überhaupt keine Bedenken. Der kann das Niveau noch mehrere Jahre halten. Darüber hinaus ist er mit seiner Erfahrung auch als Leader enorm wichtig. Auch bei uns war Jogi ein Thema, aber er hatte bekanntlich andere Pläne (schmunzelt).

Was halten Sie von den anderen Verpflichtungen?

Mit Azat Valiullin hat Hamburg einen bundesligaerfahrenen Shooter geholt, den die Mannschaft dringend gebraucht hat. Das ist ein gestandener Profi, der auch in der Abwehrmitte decken kann und mit seiner Größe ein Faktor ist. Das gilt auch für Manuel Späth. Ich kann sein aktuelles Leistungsniveau nur schwer einschätzen, weil ich seine Saison in Portugal nicht verfolgt habe, aber er war immer ein guter Abwehrspieler mit starker Mentalität.

„Spannender Spieler“: Kretzschmar empfiehlt dem Bundestrainer Handball-Talent Tissier

Wenn Casper Mortensen wieder die Form erreicht, die er vor seinen Verletzungen hatte, ist er eine Granate. Dass Nicolai Theilinger im rechten Rückraum erst einmal ausfällt, tut der Mannschaft weh. Ich bin gespannt, wie die Hamburger das kompensieren.

Was muss der HSVH auf die Platte bringen, um die Klasse zu halten?

Die Stärke muss die Abwehr in Verbindung mit dem Torhüter-Duo Jogi Bitter und Jens Vortmann und das Gegenstoßspiel über die schnellen Außen sein. Im Positionsangriff wird es gegen gute Abwehrreihen schwer.

Auf der Spielmacherposition setzt Hamburg mit Leif Tissier auf ein Toptalent. Was halten sie von ihm?

Tissier ist ein spannender Spieler. Er hat mich in der Aufstiegssaison am meisten überzeugt. Ich glaube, dass er sich auch in der Bundesliga durchsetzen wird und eine gute Rolle spielen kann. Ich mag seine Art, Handball zu spielen. Sehr beweglich, sehr kreativ mit großem Spielverständnis. Eine Spielmaus, wie es in unserem Sport so schön heißt. Ich hatte ihn mal auf dem Zettel als Kandidaten für die Füchse, aber ich denke, der HSVH ist genau der richtige Verein für ihn, um den nächsten Schritt zu machen. Auf solch einen Spieler sollte man übrigens auch als Bundestrainer mal ein Auge haben.

Großen Anteil an Tissiers Entwicklung hat Torsten Jansen. Sie kennen sich lange. Was halten Sie von ihm als Trainer?

Erstens mag ich Toto unheimlich gern. Das ist schon seit meiner aktiven Zeit so, als wir in der Nationalmannschaft gespielt haben. Als Spieler war er ein Mentalitätsmonster. Auch als Trainer überzeugt er. Toto hat gezeigt, dass er ein gutes Händchen für junge Spieler hat und eine Mannschaft entwickeln kann.

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Er weiß, wovon er redet, ist kein Schnacker oder Lautsprecher. Er schätzt die Dinge nüchtern und realistisch ein. Bei aller Erfahrung und Ruhe bringt er aber auch die nötige Portion Emotion mit. Das gefällt mir. Ich glaube, dass er einen erfolgreichen Weg wie Florian Kehrmann in Lemgo gehen kann.

Wo wird der HSVH am Saisonende landen?

Mein Tipp: Hamburg wird Drittletzter und schafft den Klassenerhalt. Die Mannschaft ist stark genug, um zwei Vereine hinter sich zu lassen. Das werden meiner Meinung nach Mit-Aufsteiger Nettelstedt und Minden sein. Als direkte Konkurrenten im unteren Tabellendrittel erwarte ich auch Balingen und Stuttgart, aber in dieser Liga weiß man nie.

Wie viele Punkte braucht es Ihrer Meinung nach, um in der Liga zu bleiben?

Gute Frage. Ich schätze, 22 Punkte sind eine Art Benchmark, an der man sich orientieren kann. 

Der Klassenerhalt soll für den HSVH nur der erste Schritt sein. Was trauen Sie den Hamburgern perspektivisch zu? 

Ich denke, dass der Verein irgendwann auch wieder oben mitspielen will, aber das ist eine Frage des Geldes. Die entscheidende Frage lautet: Wie groß ist die Bereitschaft der Hamburger Wirtschaft, in den Sport, in diesem Fall den Handball, zu investieren? Ich habe mich schon immer gewundert, dass das in Hamburg so ein Problem ist. Der neue Deal des HSVH mit Hapag Lloyd ist aber schon wegweisend. Geschäftsführer Sebastian Frecke macht meines Erachtens seit Jahren einen richtig guten Job.

Der HSVH bleibt also in der Liga – aber wer wird Meister?

Kiel und Flensburg bleiben der Maßstab und werden den Titelkampf wieder unter sich ausmachen – aber wohl nicht mit so einem großen Abstand wie in der letzten Saison. Dahinter sehe ich vier Mannschaften: Magdeburg, die Löwen, Melsungen und uns. Das sind die Top sechs. Sehr gespannt bin ich, wie sich Hannover unter der Regie von Christian Prokop entwickelt. Es wird auf jeden Fall eine geile Saison!

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