Trainer-Interview: Daniel Thioune: „Ich bin 24 Stunden Fußball, Hamburg und HSV“
52 Minuten nimmt er sich Zeit, 52 Minuten, in denen er deutlich wird, in denen er nachdenklich wird, in denen er aber vor allem fast immer ein Lächeln auf den Lippen hat. Daniel Thioune ist seit dem 6. Juli HSV-Trainer. Am kommenden Montag wird ihn die Mannschaft erstmals komplett erleben. Angepackt hat er aber längst. Im exklusiven Interview mit der MOPO spricht der 46-Jährige über Ziele, Gefahren und Jürgen Klopp.
MOPO: Herr Thioune, haben Sie schon Überraschungseier in Ihre Schublade gelegt?
Leider nicht, das ist in der aktuellen Situation nicht angemessen. Aber ich weiß natürlich, worauf Sie hinauswollen. Immer wenn wir in Osnabrück im Hotel vor dem Spiel Überraschungseier bekommen haben, habe ich die für die Kinder der Spieler bei mir in der Trainerkabine in der Schublade aufbewahrt. Corona schränkt uns leider ein – bis wieder die Kids der Spieler in der Kabine vorbeischauen, lasse ich mir dann etwas Neues einfallen.
Es ist ein Bild, das unterstreicht, dass Ihnen die soziale Kompetenz sehr wichtig ist. Im Englischen spricht man von einem Players Coach. Würden Sie sich als einen solchen bezeichnen?
Ich glaube schon, aber weniger gewollt, sondern eher instinktiv. Das ist eine Art und Weise, wie ich sein und handeln möchte. Diese Überraschungseier gab es immer im Mannschaftshotel, nicht alle Spieler haben sie gegessen. Ich habe die dann nicht mitgenommen, um sie zu Hause zu essen, sondern sie in die Schublade meines Schreibtisches gelegt, weil ich wusste, am Wochenende könnten wieder die Kinder meiner Spieler kommen. Das ist ein Beispiel. So handhabe ich das aber in vielen Bereichen. Ich sehe diesen sozialen Umgang, den ich pflege, als Basis. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man erfolgreich sein kann, wenn man die Menschen, denen man begegnet, respektiert, mit ihnen auf Augenhöhe agiert, mit ihnen spricht und sie mit ins Boot nimmt. Vielleicht ist das etwas, was ich instinktiv häufig nicht so verkehrt gemacht habe.
Ist Jürgen Klopp ein Vorbild von Ihnen?
Bei ihm imponiert mir, dass er oft einen etwas anderen, einen konträren Betrachtungswinkel einnimmt. Ein Beispiel: Patrick Owomoyela, ein guter Freund von mir und der Patenonkel meines Sohnes, hat in einem Pokalspiel für Dortmund in Düsseldorf mal in der Innenverteidigung gespielt und ist nach zwei überflüssigen Fouls mit Gelb-Rot vom Platz geflogen. Die Borussia hat dennoch am Ende gewonnen. Die erste Frage, die Jürgen Klopp nach dem Spiel gestellt wurde, war: „Zwei dumme Fouls, knöpfen Sie sich jetzt Owomoyela vor?“ Klopp guckte den Reporter an und sagte: „Ist das ihr Ernst? Ich gehe gleich in die Kabine und bedanke mich bei ihm. Dafür, dass sein Platzverweis dazu geführt hat, dass meine Mannschaft ein sensationelles Spiel abgeliefert hat.“ Das, was alle erwartet hatten, hat Jürgen damit ins Gegenteil verkehrt. Es gefällt mir, eher in Lösungen zu denken als in Problemen. Ein Vorbild ist er sicherlich im Umgang, wie er manche Dinge einordnet und betrachtet, da ticke ich vielleicht ähnlich – ohne dass ich auf die Copy-Paste-Taste drücke.
Wo setzen Sie als Trainer klare Grenzen?
Wenn sich jemand wichtiger nimmt als das Team und ausschließlich sich selbst in den Vordergrund stellt, bekommt er mit mir Probleme. Dann spreche ich das direkt, klar und deutlich an. Ich nehme meine Sorgen nicht mit nach Hause. So gebe ich meinem Gegenüber auch die Möglichkeit, mir Gründe zu nennen, warum er so handelt. Insgesamt gilt: Die Straße ist breit genug, aber ein paar Leitplanken, die setze ich dann schon.
Wie wollen Sie es schaffen, dass die Mannschaft für Sie durchs Feuer geht?
Der gegenseitige Respekt, die gegenseitige Wertschätzung ist immer wichtig. Unabhängig davon, ob ich an Kaderplatz 1 oder 32 stehe. Wenn man das vom ersten Tag an vorlebt – und sich selbst nicht rausnimmt – ist es relativ schnell möglich, als Team zusammen zu wachsen. Und in dem Augenblick, in dem das gelungen ist, muss man sich gar keine Gedanken darüber machen, was passiert, wenn es schlecht läuft. Sondern wir machen uns Gedanken darüber, was passiert in dem Fall, wenn es besonders gut läuft? Da sind wir dann in Lösungen unterwegs. Wir als Team und ich als Trainer werden auch hier stolpern, das ist auch kein Problem. Wenn wir stolpern, ist es wichtig, dass wir zuvor aus Überzeugung gehandelt haben, aus mutigen Entscheidungen heraus, im besten Wissen und Gewissen und nicht aus Bequemlichkeit, Faulheit oder Leichtsinnigkeit. Das ermögliche ich auch allen Spielern. Die Fehlertoleranz ist in einem gewissen Maße da. Und dann ist es so, dass wir Spiele gewinnen wollen und nicht nur verhindern wollen, Spiele zu verlieren.
Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt für den Wechsel eingetreten?
Es war so, dass ich als Spieler einige Anfragen hatte, den nächsten Schritt hätte machen können, aber nicht gewechselt bin. Damals hatte ich den Fokus vom Wesentlichen weggelenkt. Ich hatte irgendwann für mich entschieden, dass es ganz geil ist, in der eigenen Stadt der „König“ zu sein, die Mannschaft als Kapitän aufs Feld zu führen. Aus der Zeit habe ich meine Lehren gezogen und mir danach in Osnabrück als Trainer nach und nach eine sehr stabile Basis aufgebaut. Jetzt kam die Corona-Phase, so schlimm sie auch war, mir gab sie die Möglichkeit, mein Leben zu entschleunigen und über einiges nachzudenken, zum Beispiel darüber, was in Osnabrück nach dem Klassenerhalt möglich ist. Inwieweit kann man die Mannschaft verstärken, damit die Spieler, die da sind, auch weiter wachsen können? Und da habe ich ein paar Grenzen gesehen. Wirtschaftlich ist der Verein noch nicht dazu in der Lage. Auch infrastrukturell gab es Grenzen. Wenn beim Training auf der anderen Seite der benachbarte Kindergarten über den Rasen läuft, ist das zwar lustig, aber sicher nicht optimal. Und dann gab es eben mit der Anfrage des HSV für mich die Chance, selbst ein Stück zu wachsen. Ich brauche da niemandem etwas vorzumachen, die Herausforderung Hamburger SV ist groß. Es kann der nächste Schritt sein. Ich werde alles dafür tun erfolgreich zu sein und wenn man alles gibt, ist das schon eine ganze Menge. Die Jungs in Osnabrück, die ich teilweise lange trainiert hatte, sind erwachsen geworden. Vielleicht brauchen sie jetzt mal ein anderes Gesicht, in das sie blicken, einen, der ihnen etwas anderes erzählt. Es ist also eine Chance für beide Seiten. Für den VfL. Und für mich. Ich komme aus meiner Wohlfühloase heraus und tauche ein in die nächste Herausforderung.
Haben Sie die Zelte in Osnabrück endgültig abgerissen?
Nein. Heimat gibt es nur eine für mich – Osnabrück. Das ist der Ort, wo ich aufgewachsen bin, wo ich die letzten 17 Jahre an einem Ort gelebt habe. Zu Hause ist aber immer da, wo ich gerade bin. Deswegen lasse ich mich auch voll auf Hamburg ein. Meine Familie kommt größtenteils mit – meine 22-jährige Tochter ist fertig mit der Ausbildung und fängt jetzt an zu studieren und wird in der Basis in Osnabrück bleiben. Das ist auch für mich wichtig, dass jeder jederzeit zu dieser Basis zurückkehren kann. Auch mein Sohn, der jetzt erstmals aus seinem gewohnten sozialen Umfeld rausgeht. Das wird eine Herausforderung sein, da will ich ihm die bestmöglichen Voraussetzungen in Hamburg schaffen. Immer mit der Chance, dass er sich keine zwei Stunden in den Zug setzt und wieder in seinem Zimmer schläft. Aktuell sind wir in Hamburg noch auf der Suche nach einer Wohnung.
Warum ist der HSV jetzt der richtige Verein für Sie?
15.30 Uhr. Bundesliga. Das möchte ich irgendwann erleben. Und ich habe das Gefühl, dass das hier möglich sein kann, denn der eingeschlagene Weg der Verantwortlichen überzeugt mich. Der HSV ist eine Chance, der nächste Schritt für mich.
Sie waren gerade im Urlaub. Wie gut konnten Sie abschalten?
Als Trainer lässt Fußball einen nicht mehr los. Ich habe keine acht Stunden am Stück geschlafen, bin immer nach drei, vier Stunden aufgewacht, habe überlegt, wie ich es angehe, mich vorbereitet. Ich bin 24 Stunden Fußball – und jetzt 24 Stunden Hamburg und HSV.