Olympia-Kolumne von Nils Weber: Eine Mogelpackung, die überfällig ist!
Bonjour Hambourg! Die Spiele haben begonnen. Olympia im Herzen Europas, in der Stadt der Liebe, der Mode, der Museen, der ikonischen Bauwerke (irgend so ein Turm), der eingedellten Autos, der billigen Baguettes und überteuerten Hotelzimmer, der überfüllten Boulevards, der charmanten und arroganten Bewohner, der Macarons und Macrons. Bienvenue, willkommen in der Olympiastadt Paris! Mais, non… das stimmt gar nicht. Habe ich an einem meiner ersten Tage gelernt. Olympia in Paris? Das ist allenfalls die halbe Wahrheit.
„Schön hier in Paris!“, sage ich zu der älteren Dame, mit der ich auf der Straße nahe meines Olympia-Quartiers ins Gespräch gekommen bin. Sie spricht – und das darf man in Frankreich durchaus als Rarität bezeichnen – recht gut Englisch (und besser als ich Französisch) mit dem schönen weichen Akzent, doch ihre Gesichtszüge verhärten sich nach meinem Kompliment. „Das hier ist nicht Paris“, sagt sie sehr bestimmt. „Paris ist da drüben“, fährt sie fort und gestikuliert mit einer Hand die Straße runter. Die Geste wirkt etwas abfällig. „Fängt zwei Straßen weiter an.“
Wie bitte? Ich wohne gar nicht in Paris?
Ich bin irritiert. Ich bin doch in Paris?! Wähne mich halbwegs mittendrin, einigermaßen zentral sogar. Bin stolz, in einer für den Besuch der Sportstätten guten Lage ein recht günstiges Apartment gefunden zu haben, für dessen Finanzierung im Zeitraum der Olympischen Spiele man keinen Kredit aufnehmen oder sein Auto verscherbeln muss. Vergleichsweise mittig gelegen. In Paris halt. Dachte ich.
Falsch gedacht. Levallois-Perret, wo ich derzeit wohne, ist nämlich kein Stadtteil von Paris, sondern eine eigene Stadt in Frankreich im Département Hauts-de-Seine in der Region Île-de-France. Sie liegt „nordwestlich von Paris“, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, grenzt aber unmittelbar an die Hauptstadt, ans rechte Ufer der Seine. Immerhin. Ich wohne also fast in Paris. In Fußweite. Der Übergang ist fließend.
Hat Paris zwei Millionen Einwohner oder zwölf? Kompliziert!
Was viele nicht wissen: Die eigentliche Stadt Paris ist vergleichsweise klein. Wenn man auf die Karte schaut, ist es ein Kreis, den der Boulevard Périphérique, eine vierspurige Ringstraße um Paris mit seinen 20 Arrondissements herum, bildet. Diese Straße, von den Einheimischen kurz Périph oder BP genannt, muss ich überqueren, um in Paris zu sein. Der innere Zirkel hat dann auch „nur“ 2,1 Millionen Einwohner, die sich auf 105 Quadratkilometern tummeln. Macht 21.000 Einwohner pro Quadratkilometer. Kuschelig. Die Metropolregion, also das, was man gemeinhin für Paris hält, hat dagegen 12,4 Millionen Einwohner. Weltmetropolen-Dimensionen.
Die olympische Krux bei der ganzen Sache: Von den 39 Wettkampfstätten dieser Spiele liegen nur 15 in Paris, also: dem echten Paris. Die Beachvolleyball-Arena am Eiffelturm, Breakdance und BMX auf dem Place de la Concorde, Fechten im Grand Palais oder Tennis in Roland Garros, das sich wie der Prinzenpark (Fußball) so geraaade noch innerhalb des Pariser Rings befindet.
Das Herz der Spiele schlägt nicht in Paris
Die große Mehrheit der Wettkampfstätten: nicht in Paris, wenn man es genau nimmt. Schwimmen im angrenzenden Nanterre, Hockey in Colombes, Reiten in Versailles, Leichtathletik im Stade de France, das auch nicht in Paris, sondern in Saint-Denis liegt, nördlich. In der nordfranzösischen Stadt Lille (eine Zug-Stunde entfernt) wird phasenweise Basketball und Handball gespielt, im zwei Stunden entfernten Châteauroux (Loire-Region) nehmen die Schützen Medaillen ins Visier. In ganz Frankreich wird olympischer Fußball gespielt. Und gesegelt wird vor Marseille.
Nicht einmal das Herz der Spiele, das legendäre Olympische Dorf, in dem rund 11.400 Athletinnen und Athleten und dazu Trainer, Betreuer und Delegierte untergebracht sind, schlägt in Paris, sondern erstreckt sich nördlich davon über die drei Kommunen Saint-Ouen, Saint-Denis und der Île-Saint-Denis.
Der Gedanke der Nachhaltigkeit dominiert
Olympische Spiele in Paris? Krass ausgedrückt: eine Mogelpackung. Ich lasse mich in diesem Fall aber gerne beschummeln. Denn der Grund der olympischen Zerstreuung ist ein guter: Nachhaltigkeit, Vernunft. Es sollten so wenige neue Wettkampfstätten gebaut und so viele bestehende wie möglich genutzt werden. Gut so! Endlich! Es ist ein wichtiger und lange überfälliger Schritt in die richtige Richtung – weg vom olympischen Gigantismus und milliardenschweren Neubau-Wahn.
Das schöne Olympische Dorf, das in den sogenannten Banlieues, den Vorstädten und sozialen Brennpunkten, liegt, soll nach den Sommerspielen in einem lebenswerten Stadtteil umgewandelt werden, der eine Brücke schlägt zwischen dem reichen Paris und dem armen Norden. Ob das gelingt? Verbindung – oder doch nur wieder Gentrifizierung? Möge das Projekt ein Erfolg und Erbe dieser Spiele werden.
Surfer sind 16.000 Kilometer von Paris entfernt
Ach ja, einen olympischen Wettkampfort außerhalb von Paris habe ich noch nicht erwähnt – es ist der am weitesten vom ursprünglichen Austragungsort der Spiele entfernte der olympischen Geschichte, nicht mit einem der olympischen Transport-Linien erreichbar. Weil die Seine zwar eine starke Strömung, aber wenig Wellen hat, werden die Wettbewerbe im Wellenreiten in – wer es noch nicht mitgekriegt hat, hält bitte jetzt die Luft an – Tahiti ausgetragen. Nein, das ist kein gleichnamiger Vorort von Paris, der so heißt wie die Südseeinsel. Es ist die Südseeinsel in Französisch-Polynesien, rund 16.000 Kilometer von Paris entfernt.
Warum so weit weg? Wo die Atlantikküste doch so nah ist. Es gilt, die legendäre Riesen-Welle von Teahupo’o zu reiten. Das gibt sicherlich spektakuläre Bilder, die um die Welt gehen. Medaillenjagd im Paradies. Gold und Türkis. Podium und Palmen. Steeldrums und trommelbäuchige Funktionäre. Besonders nachhaltig ist die ganze Nummer nicht. Deshalb boykottiere ich das. Nehmen Sie mich gerne beim Wort: Ich werde in den nächsten Tagen NICHT nach Tahiti reisen. Das habe ich glücklicherweise auch meinem Chef ausreden können. Er versteht meine moralischen Bedenken. Bin erleichtert.
Mit Laufschuhen rein nach Paris – und wieder raus
Da schlüpfe ich doch lieber allmorgendlich in meine gut gedämpften Laufschuhe und gehe einfach rüber – nach Paris. Klimaneutral. Fahre dort mit Metro, Bus, Straßenbahn von Wettkampfstätte zu Wettkampfstätte (also auch oft wieder raus aus Paris). Die Emissionen, die ich in den nächsten zwei Wochen in hohem Maße verursachen werde, heißen Serotonin, Dopamin, Endorphin, Adrenalin.
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Au revoir Hambourg … et à bientôt!