Brief aufgetaucht: Helmut Schmidts Familiengeheimnis endlich gelüftet
Helmut Schmidt – Nachfahre eines Juden. Wäre das in seiner Kindheit oder Jugend herausgekommen, wäre er weder Offizier in Hitlers Armee geworden noch Bundeskanzler. Und sein Vater Gustav (1888-1981) wäre den Posten als Studienrat los gewesen – und möglicherweise ins KZ gesperrt worden. Ein kurzer Brief hat das alles verhindert: vergilbtes liniertes Papier. Die Schrift: Sütterlin.
Vor kurzem hat die MOPO über Helmut Schmidts jüdische Vorfahren berichtet – ein Artikel, der auf große Resonanz stieß. Dazu passend ist ausgerechnet jetzt dieses Schlüsseldokument der Familiengeschichte in den Besitz der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung übergegangen.
Dieser Brief sollte die jüdische Herkunft verschleiern
Die Frau, die den Brief geschrieben hat, ist Friederike Christine Eduardine Feind, geborene Wenzel. Sie war 75 Jahre alt, als sie diese Zeilen an ihren Sohn Gustav Schmidt richtete, Helmut Schmidts Vater, und ihm Zeugnis darüber ablegte, dass er 1888 als uneheliches Kind geboren wurde. „Da Du gerne wissen möchtest, wer Dein Vater war: Er nannte sich Ludwig, seinen Zunamen hat er nicht gesagt… Habe Deinen Vater vom Geschäft aus auf dem Nachhauseweg kennengelernt. Derselbe lud mich ein ins Theater und dann gingen wir zum Abendessen. Da haben wir bisschen Wein getrunken und so ist es gekommen. Habe ihn nur einmal wiedergesehen. Er schrieb zwo Zeilen, er müsste verreisen. Habe nichts wiedergehört von ihm. Nun weißt Du alles, lieber Gustav.“
Auch ohne die Geschichte dahinter wäre dieses Schreiben ein wertvolles historisches Zeitdokument, denn als Gustav 1888 unehelich geboren wurde, galt das für Mutter und Kind noch als große Schande. So etwas zuzugeben und aufzuschreiben, fiel sicher nicht leicht.
Historischer Podcast: Der Tag, an dem Helmut Schmidts Vater zur Welt kam
Friederike Wenzel, die als Kellnerin kaum genug verdiente, um sich alleine über Wasser zu halten, gab das Kind schon kurz nach der Geburt zur Adoption frei. Ein befreundetes Ehepaar zog den kleinen Gustav Schmidt groß, und er brachte es immerhin zum Studienrat. Für ein Arbeiterkind eine erstaunliche Karriere.
Dass Friederike Feind diesen Brief 1942 schrieb, war kein Zufall. In Wahrheit hatte das Schreiben nicht den Zweck, dem Sohn ihren Fehltritt zu gestehen – das wusste er wahrscheinlich schon. Der Brief diente nicht der Aufklärung, sondern der Vertuschung.
Für die Hochzeit war „Ariernachweis“ nötig
1942 war das Jahr, in dem Gustavs Söhne Helmut und Wolfgang heiraten wollten. Voraussetzung dafür war in Nazi-Deutschland der sogenannte Ariernachweis. Und genau da lag das Problem: Im Ahnenpass von Helmut Schmidt war die Position „Großvater“ leer – das Standesamt war 1888 nach der üblichen Praxis vorgegangen und hatte den unehelichen Vater von Gustav Schmidt nicht in dessen Geburtsurkunde eingetragen – ein großes Glück, sonst wäre seine jüdische Herkunft längst bekannt gewesen.
Gustav hatte jetzt große Sorge, dass die Nazi-Behörden kritisch nachfragen würden und alles rauskommen könnte. Genau aus diesem Grund bat er seine leibliche Mutter um eine schriftliche Bestätigung, dass die Identität seines Vaters auch ihr unbekannt sei.
Mit den Worten „Da haben wir bisschen Wein getrunken und so ist es gekommen“ will die Mutter also kein Geständnis darüber ablegen, dass sie unvorsichtigerweise mit einem Fremden ins Bett gestiegen war. Das Eingeständnis ihrer „Schande“ sollte einzig und allein als Schutzschild für Gustav dienen, der andernfalls seinen Posten als Studienrat verloren hätte. Und für die Enkel Wolfgang und Helmut, die nicht hätten heiraten können.
Helmut Schmidts Großvater war der Bankier Ludwig Gumpel aus Bernburg
Übrigens: Friederike Wenzel wusste ganz genau, wer der Vater ihres Kindes war – Ludwig Gumpel, ein jüdischer Privatbankier aus Bernburg in Sachsen-Anhalt, der sich zwar 1888 nicht zu seinem Kind bekannte, aber wenigstens großzügig Alimente zahlte. Sein Sohn Gustav hatte sogar zeitweise Kontakt zu ihm.
Der Brief stammt aus dem umfangreichen Nachlass von Helmut Schmidts Bruder Wolfgang. Insgesamt haben die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und das Helmut-Schmidt-Archiv 2600 Blatt übernommen – den größten Teil macht die Korrespondenz von Wolfgang Schmidt und dessen Frau Gesa aus der Zeit von 1935 bis 1986 aus. Bedeutsam sind die von Gustav Schmidt, dem Vater der Brüder, zusammengetragenen biografischen Dokumente. Auch sechs Radierungen des Hamburger Malers Hugo Schmidt befinden sich in dem Nachlass.