• So wurde er berühmt: Als der „schwerste Radfahrer der Welt“ trat er in seinen Shows gerne auf – gemeinsam mit Peter Hansen, einem „Liliputaner“, wie es damals hieß. Beide konnten auf dem Drahtesel erstaunliche Kunststücke. Ein Foto aus dem Jahr 1898.
  • Foto: A. Bartel

Hamburg History: „Colossalmensch“ Emil Naucke: Er war der dickste Star von St. Pauli

Die Älteren wissen vielleicht noch, dass früher in Hamburg das Wort „Naucke“ ein Synonym war für dicke Menschen. Und Kinder haben bis in die 70er Jahren eine große Murmel oder einen bauchigen Kreisel so genannt – ohne die geringste Ahnung, auf wen dieser Begriff zurückgeht: auf Emil Naucke nämlich, einst der größte Star von St. Pauli. Auf jeden Fall der gewichtigste: 235 Kilo brachte der Mann auf die Waage – und war trotzdem eine Sportskanone.

Er ist schon ein bisschen seltsam: der Geschmack unserer Ur- und Ururgroßeltern. Ende des 19. Jahrhunderts avancieren sogenannte Abnormitätenschauen – englisch: Freak Shows – zu einem Massenvergnügen.

Menschen ergötzen sich an körperlichen Fehlbildungen

Die Lust auf Andersartiges, Exotisches, Bizarres ist damals riesengroß. Das erklärt, wieso die Leute in Massen zu Hagenbecks Völkerschauen strömen, wo Lappländer, Asiaten, Afrikaner oder Indianer ausgestellt sind wie Tiere. Es erklärt aber auch, wieso sich das Publikum am Anblick körperlicher Fehlbildungen ergötzt.

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Abnormitätenschauen waren groß in Mode Ende des 19. Jahrhunderts. Lionel, der Löwenmensch beispielsweise trat auf vielen Jahrmärkten auf.

Foto:

MOPO-Archiv

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Miss Gabriele wurde präsentiert als „Frau ohne Unterleib“

Foto:

Panoptikum

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Josef Büllesbach tourte als Mensch mit 1,70 Meter langem Bart durchs Land. Auch im Hamburger Panoptikum trat er auf.

Foto:

Panoptikum

Riesen und „Liliputaner“, Armlose und Albinos, Siamesische Zwillinge und Frauen ohne Unterleib, extrem Dicke und Gestalten, die nur aus Haut und Knochen bestehen, sogenannte „Hautmenschen“ – sie alle treten auf dem Hamburger Dom oder auf dem Spielbudenplatz auf, lassen sich gegen Geld begaffen und stillen so die Sensationsgier des Volkes.

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Kleinwüchsige traten auf dem Dom und auf dem Spielbudenplatz als „Liliputaner“ oder „Zwerge“ auf.

Foto:

Zint/Panfoto

Unter all diesen abnormen lebendigen Sehenswürdigkeiten ist „Colossalmensch“ Emil Naucke der King.

Der „Colossalmensch“ wird zum Liebling des Publikums

Wie beliebt er in Hamburgs Bevölkerung ist, das zeigt sich spätestens, als er am 25. Januar 1900 überraschend stirbt. Als sich der Trauerzug mit dem Sarg Richtung Ohlsdorf in Bewegung setzt, marschiert das Musikkorps des Bahrenfelder Artillerie-Regiments vorneweg. Der gesamte Verkehr in der Stadt bricht zusammen, weil – so schreiben die Zeitungen – 100.000 Menschen Naucke die letzte Ehre erweisen wollen. Die Zahl ist wahrscheinlich eine Übertreibung, aber trotzdem ein Indiz dafür, welchen Stellenwert dieser Künstler hat.

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Plakat einer Tournee Nauckes

Foto:

Sammlung Amenda

Vier Wochen nach seiner Geburt wiegt er schon 14 Kilo

Geboren wird Emil Naucke am 2. Mai 1855 auf der Insel Poel bei Wismar. Der Legende nach wiegt er schon vier Wochen nach seiner Geburt 14 Kilo. Trotz seiner Leibesfülle ist Naucke in jungen Jahren ein talentierter Turner und Seiltänzer. Von der Welt der Komödianten und Schausteller ist er hingerissen, sodass er sich mit 14 Jahren einer Zirkusgesellschaft anschließt und mit ihr übers Land tingelt.

Irgendwie gelingt es Vater und Mutter, den Ausreißer wieder einzufangen und ihn in eine Bäckerlehre zu zwingen. Naucke fügt sich seinen Eltern zwar, aber für ihn ist trotzdem klar, dass er sein Leben nicht mit Brotbacken vergeuden will. Er nutzt die Zeit in der Backstube, um sich „durch Exerzitien mit Mehlsäcken“ zum Athleten auszubilden, und ist mit 18 wieder auf und davon.

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Als schwerster Mann der Welt tourte Naucke rund um den Globus

Foto:

Sammlung Amenda

Er geht dahin, wo das Vergnügen zu Hause ist: nach St. Pauli. Naucke, der nur 1,70 Meter groß ist, aber einen Hüftumfang von 1,83 Meter hat, tritt als Schwergewichts-Artist zunächst in Kiezkneipen auf, bevor er am 8. März 1873 sein Debüt im St. Georg-Theater gibt.

Daneben macht er sich als Preisringer einen Namen. Gegen namhafte internationale Gegner tritt er an: 1878 etwa gegen den Franzosen André Christol. Beim Kampf im Circus Renz flippt das Publikum völlig aus. Irgendwer brüllt: „Naucke, holl di“ – Naucke, halte dich (auf den Beinen) – und alle im Saal stimmen in diesen Schlachtruf mit ein. Nach dem überraschenden Sieg wird er zum Liebling der Massen.

Als Preisringer wird Naucke zum Superstar

Weil es kaum Menschen gibt, die es mit ihm aufnehmen können, tritt Naucke nun gegen Vierbeiner an. Im Sommer 1879 kommt es im Tivoli am Schulterblatt zum großen Wettbewerb mit zwei kräftigen Arbeitspferden. „100 Mark für das Pferd, das Herrn Naucke besiegt!“, so steht es in der Zeitung. Auf spektakuläre Weise demonstriert der Kraftathlet, dass in jedem seiner Arme mindestens ein PS steckt.

Naucke tourt durch ganz Europa. Ob in Paris, Wien oder Berlin, ob in London, Petersburg, Helsinki oder Kopenhagen – er wird gefeiert. In Dresden, wo er acht Tage gastiert, verfolgen fast 47.000 Menschen seine Kraft- und Kunststücke. Im Publikum sind immer wieder auch gekrönte Häupter. In Madrid ruft ihn beispielsweise König Alfonso XII. in seine Loge und lädt ihn ein, eine Vorstellung bei Hofe zu geben. In Schwerin findet Großherzog Franz II. Gefallen an Naucke und besucht dessen Vorführungen wiederholt.

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235 Kilo brachte Naucke auf die Waage. In seinen ersten Jahren trat er nicht nur als Künstler, sondern äußerst erfolgreich auch als Preisringer auf.

Foto:

Sammlung Amenda

Es ist tatsächlich beeindruckend, was der Hamburger auf der Bühne leistet: „Emil Naucke schleudert eine eiserne Kugel von ungefähr 70 Pfund, welche an einer Kette befestigt ist, durch die Luft, um sie dann mit seinem Genick aufzufangen“, schreibt die Hamburger Freie Presse. „Zweitens streckt er eine Hantel von 212 Pfund mit einer Hand. Zum Schluss sei noch das Exerzitium mit dem einzig auf der Welt existierenden eisernen Riesengewehr gedacht. Mit demselben übt Emil Naucke ,Griffe‘, dass einem jeden Militär beim bloßen Anblick die Knochen im Leibe krachen.“

Er ist sogar schwerer als der schwerste Amerikaner

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Ein Werbeplakat des Varietés Naucke.

Foto:

Sammlung Amenda

1888 und 1889 ist Naucke auf USA-Tournee. In New York feiert er am Broadway riesige Erfolge und wird dann auch noch zum Star einer Konferenz der „Fat Men’s Association“. Auf deren Einladung führt er mit einer vierspännigen Kutsche einen Umzug durch die Stadt an. Später schreibt er an einen Freund: „Als wir im Vereinshause ankamen und ich gewogen wurde, stellte sich heraus, dass ich noch 78 englische Pfund schwerer als der schwerste Mann Amerikas bin.“

Am Spielbudenplatz eröffnet er sein eigenes Varieté

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Am Spielbudenplatz eröffnete Naucke sein eigenes Varieté. Fast jeden Abend war der Saal, der 400 Gäste fasste, ausverkauft.

Foto:

Sammlung Amenda

Grotesk und humoristisch waren Nauckes Nummern eigentlich immer schon, ab 1890 aber verwandelt sich der Artist und Schwerathlet vollends zum Komiker. Den richtigen Partner dafür findet er in Peter Hansen, einem Gastwirt aus Schleswig, der – zumindest optisch – das genaue Gegenteil von ihm ist, denn Hansen, dessen Körpergröße 98 Zentimeter beträgt, bringt gerade mal 43 Pfund auf die Waage. Wenn „Colossalmensch“ Naucke verkleidet als „Pauline vom Ballett“ im Tutu süß lächelnd auf der Bühne tanzt und dabei von einem „Heinzelmännchen“ umworben wird, dann löst das beim Publikum nicht enden wollende Beifallsstürme aus und alle kringeln sich vor Lachen.

Die Leute lachen sich tot über „Pauline vom Ballet“

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Das war Nauckes lustigste Nummer: Der dicke Mann als „Pauline vom Ballet“. Das Publikum tobte vor Begeisterung, wenn er so auftrat.

Foto:

Museum für Kunst und Gewerbe

Naucke wird ein reicher Mann. Gemeinsam mit seiner Frau verbringt er die „Sommerfrische“ regelmäßig in seiner Villa in Bad Oldesloe, die er 1890 erwirbt. 1896 verewigt er sich in St. Paulis Vergnügungskultur, indem er am Spielbudenplatz sein eigenes Theater eröffnet. Sein berühmter Name prangt jetzt in Riesenlettern über dem Eingang: „Naucke’s Varieté“ ist jeden Abend ausverkauft.

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Kurz vor der Jahrhundertwende erlebt Deutschland einen wahren Fahrradboom – und das bringt Naucke auf die Idee, das neumodische Gefährt in sein Programm einzubauen. Er selbst nennt sich jetzt „schwerster Radfahrer der Welt“ und lässt diesen Slogan auch auf Werbepostkarten drucken. Man muss sich das vorstellen: Ein 235 Kilo-Koloss, der auf der Bühne mit seinem ungleichen Partner Hansen Fahrradakrobatik vorführt, und das dann auch noch synchron – zum Schreien komisch ist das!

Aus dem Fahrradboom um 1900 macht er eine Varieté-Nummer

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Soeben erschienen: ein spannendes Buch über das Leben von Emil Naucke. Autor ist der Hamburger Historiker Lars Amenda.

Foto:

Olaf Wunder

Naucke wird beschrieben als äußerst großzügiger und hilfsbereiter Mensch. Als der Deutsche Radfahrer-Bund „Gau Hamburg“ im Januar 1900 eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten von Hamburgs Kindergärten veranstaltet, lässt er sich daher auch nicht lange bitten: Natürlich ist das Duo Naucke/Hansen mit von der Partie. Die beiden Humoristen geben zur Freude der Anwesenden eine Kostprobe ihres Könnens.

Für Naucke ist es der letzte Auftritt seines Lebens: Der Applaus in Sagebiels Etablissement an der Drehbahn ist noch nicht verhallt, da äußert er, dass ihm schlecht sei. Sekunden später bricht er tot zusammen. Herzinfarkt mit 44.

Hamburg ist geschockt. Die Stadt hat ihren größten Star verloren. „Nauckes Tod wurde heute von Jedermann erörtert“, schreiben die „Hamburger Nachrichten“, „ist doch in dem Verstorbenen die ,gewichtigste‘ und zugleich wohl auch eine der populärsten Persönlichkeiten nicht nur Hamburgs, sondern wohl von ganz Deutschland aus dem Leben geschieden.“

Lars Amenda setzt Emil Naucke ein Denkmal

Unser Buchtipp: Historiker Lars Amenda hat Emil Naucke ein Denkmal gesetzt mit diesem Buch: „Der schwerste Radfahrer der Welt!“, ISBN 978-3-949139-03-1, 92 Seiten mit vielen Abbildungen, 11,80 Euro.

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