„Grobes Versagen“: Scharfe Kritik an Impfstrategie und Spahn – der reagiert verwundert
Berlin –
Deutschland impft – doch aus Sicht vieler Experten könnte es schneller vorangehen. Im Zentrum der Kritik: Gesundheitsminister Jens Spahn. Doch der zeigt sich verwundert.
Rund eine Woche nach Beginn der Corona-Impfungen in Deutschland wächst die Kritik an der Strategie der Bundesregierung. Ein Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina warf der großen Koalition schwere Versäumnisse bei der Beschaffung des Impfstoffs vor. Auch SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sieht deutliche Defizite. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese griff den Gesundheitsminister scharf an: „Ich bin derzeit schon entsetzt über Jens Spahn“, sagte er „t-online“.
Berlin: Scharfe Kritik an Jens Spahn
Und Wiese setzt noch einen drauf: Der CDU-Politiker müsse „endlich seinen Aufgaben nachkommen und die offensichtlichen Probleme unverzüglich in den Griff bekommen“.
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Auch FDP-Fraktionsvize Michael Theurer griff den Gesundheitsminister an. Allerspätestens im Herbst hätte er auf die rasanten Entwicklungen bei Biontech reagieren müssen, sagte er dem „Handelsblatt“. „Er hat aber die Fehlentscheidung der Bundesregierung nicht korrigiert und versagt.“
Die Linksfraktion fordert eine Regierungserklärung des Ministers im Bundestag. „Es muss aufgearbeitet werden, warum der Impfstoff zu knapp ist und wo geschlampt wurde“, sagte der parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte.
Spahn weist Kritik zurück
Der Gescholtene wies die Kritik abermals zurück. „Es läuft genauso, wie es geplant war“, sagte er „RTL Aktuell“. 1,3 Millionen Dosen Impfstoff seien bis Jahresende an die Bundesländer ausgeliefert worden, bis Ende Januar würden es insgesamt 4 Millionen sein – genau wie er seit Wochen angekündigt habe „mit dem Hinweis, dass es am Anfang knapp sein würde und wir deshalb priorisieren müssen“. Spahn versprach, dass im Januar alle Pflegeheim-Bewohner geimpft werden könnten.
Das Robert Koch-Institut teilte am Samstag mit, inzwischen seien rund 188.500 Impfungen gegen das Coronavirus gemeldet. Darunter sind in etwa zu gleichen Anteilen Bewohner von Pflegeheimen und medizinisches Personal mit sehr hohem Ansteckungsrisiko sowie Personal in der Altenpflege. Die Meldungen aus den Bundesländern werden teilweise aber mit Verzug an das Institut übermittelt, so dass die realen Zahlen jeweils deutlich höher sein könnten.
Karl Lauterbach mit düsterer Prognose
Lauterbach erwartet zunächst keine Besserung der Corona-Lage. „Wir werden jetzt die schlimmsten drei Monate der gesamten Pandemie mit hohen Infektions- und Todeszahlen vor uns haben“, bekräftigte er in der „Rheinischen Post“. Es sei aber zu wenig Biontech-Impfstoff geordert worden, und auch zu wenig vom noch nicht zugelassenen Präparat des US-Unternehmens Moderna.
„Schon sehr früh war klar, dass der Moderna-Impfstoff sehr stark wirkt und in Hausarztpraxen verwendet werden könnte“, sagte Lauterbach. Die Bundesregierung rechnet damit, dass dieser Impfstoff am 6. Januar zugelassen wird. Die EU hatte bei Biontech 300 Millionen Impfdosen bestellt und bei Moderna zunächst 160 Millionen.
Die Leopoldina-Neurologin Frauke Zipp betonte: „Ich halte die derzeitige Situation für grobes Versagen der Verantwortlichen.“ Es habe im Sommer Angebote für mehr Impfdosen gegeben, im Spätsommer von Biontech. „Wir hätten sie jetzt zur Verfügung“, sagte sie der „Welt“. Die Leopoldina gehört zu den wichtigsten Beratern der Regierung.
Biontech: Mehr Impfstoff als geplant für EU
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides verteidigte die Impfstoff-Strategie der EU. „Das Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellungen, sondern der weltweite Engpass an Produktionskapazitäten“, sagte sie. „Das gilt auch für Biontech.“ Zugleich versprach Kyriakides schrittweise Verbesserungen bei der Versorgung.
Kyriakides versicherte, man habe die Verhandlungen mit Biontech früh aufgenommen und der Firma mit 100 Millionen Euro beim Aufbau der jetzigen Produktionskapazitäten geholfen. Gleichzeitig habe man mit anderen Herstellern Verträge geschlossen. „Wir waren uns in der EU einig, dass wir nicht alles auf eine Karte setzen dürfen“, betonte die Kommissarin. Sonst hätten die EU-Staaten womöglich ohne wirksamen Impfstoff dagestanden.
Biontech hatte am Freitag erklärt, mehr Corona-Impfstoff als bisher geplant an die EU liefern zu wollen. Das Unternehmen befinde sich „in fortgeschrittenen Diskussionen, ob und wie wir weitere Impfstoffdosen aus Europa für Europa in diesem Jahr zur Verfügung stellen können“, sagte Unternehmenschef Ugur Sahin. (vd/dpa)