Ein Hamburger Arzt packt aus: Kliniken am Limit – das sind die wahren Gründe
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„Der verlorene Patient“ heißt ein aktuelles Buch auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Darin legt ein Herzchirurg schonungslos offen, wie es hinter den Kulissen der Krankenhäuser abläuft. Und wie sehr die Gesundheit der Patienten aus dem Blick gerät, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn soll schon auf das Buch aufmerksam geworden sein. Geschrieben hat es Dr. Umes Arunagirinathan (42). Er kam als unbegleiteteter minderjähriger Flüchtling nach Hamburg, studierte und arbeitete hier. Heute ist er Herzchirurg in Bremen.
MOPO: Sie rechnen in Ihrem Buch mit dem Gesundheitssystem ab. Was sagt die Corona-Situation an den Kliniken über unser Gesundheitssystem aus?
Umes Arunagirinathan: Die Corona-Krise zeigt jetzt ganz deutlich Probleme im System, die schon lange bestehen, aber nicht angegangen wurden. Sie haben zu diesem Mangel an Pflegekräften geführt. Das Ergebnis ist, dass Intensivbetten nicht belegt werden können, weil es an Personal fehlt.
Auf der einen Seite haben wir unter normalen Bedingungen eine Überdiagnostik und Übertherapie an den Kliniken und auf der anderen Seite maximal unattraktive Berufe wie Pfleger. Ihre Tätigkeit wird sogar immer unattraktiver, das muss unbedingt aufgewertet und vernünftig bezahlt werden.
MOPO: Ihr Buch heißt „Der verlorene Patient“. Wieso ist der Krankenhauspatient verloren?
Ich arbeite mittlerweile seit zwölf Jahren im Krankenhaus und beobachte, dass der Patient immer weniger im Mittelpunkt unseres Handelns steht.
MOPO: Was ist denn wichtiger, als die Gesundheit des Patienten?
Die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses – ob es schwarze Zahlen schreibt. Der moderne „Manager-Chefarzt“ wird gelobt, wenn er in seinem Krankenhaus für hohe Fallzahlen gesorgt hat. Aber das ist der völlig falsche Maßstab, denn damit wird nur die Wirtschaftlichkeit bewertet.
Die eigentliche Leistung eines Krankenhauses sollte aber danach bemessen werden, ob die Patienten gut und richtig behandelt wurden. Das wird aber nirgends überprüft.
MOPO: Was sollte dabei betrachtet werden?
Ob es dem Patienten jetzt besser geht. Es ist doch wichtig, zu wissen, ob ein Patient die richtige Therapie oder OP bekommen hat. DAS ist die Leistung, die überprüft und bewertet werden müsste. Nur weil ein Krankenhaus besonders viele Knie-oder Hüft-OPs gemacht hat, waren sie ja für den einzelnen Patienten nicht automatisch sinnvoll und erfolgreich.
Umes Arunagirinathan: Niemand prüft die Wirksamkeit
Es überprüft aber niemand, ob es diesem Menschen jetzt besser geht, oder ob er vielleicht schon die nächste Maßnahme bekommt, weil es nicht geholfen hat. Vielleicht haben sie am Ende 1000 Patienten operiert, aber nur 400 geholfen.
MOPO: Aber ist der behandelnde Arzt nicht frei in seiner Entscheidung, welche Behandlung er wählt?
Auf den Ärzten lastet ein großer wirtschaftlicher Druck. Da sind der Geschäftsführer und der Chefarzt, die wollen ihre Vorgaben erfüllen und am Ende wohl auch ihr Einkommen verbessern. Denn an einem höheren finanziellen Erfolg sind sie ja in der Regel beteiligt. Und so übt der Chefarzt Druck auf die Ärzte aus.
Chefarzt entscheidet, wer Karriere macht
Das kann er, denn er entscheidet, wer in der Klinik vorwärts kommt, wer Oberarzt wird, wer seinen Facharzt machen darf. Deshalb traut sich kaum jemand, den Chefarzt zu hinterfragen. Es schadet womöglich der Karriere.
MOPO: Und dann kann es passieren, dass OPs gemacht werden, die vielleicht gar nicht nötig wären?
Ja. Sehen Sie sich die Knie-OPs an und die steigende Zahl der Herzkatheter-Untersuchungen und der Diagnostik. Oder das minimalinvasive Einsetzen von Aortenklappen (TAVI). Patienten, die früher wegen ihres hohen Alters oder einer Demenz etwa abgelehnt wurden, bekommen plötzlich in großer Zahl Aortenklappen.
Kliniken nehmen unnötige Operationen vor
Warum? Weil die Operation der Klinik 32.000 Euro bringt. Die Verwendung einer klassischen Herzklappe hingegen deutlich weniger. Es gibt auch immer mehr Kaiserschnitte, auch die werden viel besser honoriert als eine klassische Geburt.
MOPO: Also falsche Anreize im System?
Ja. Letzten Endes sorgt das Abrechnungssystem dafür, dass vor allem Maßnahmen ergriffen werden, die gut bezahlt werden. Ein Beispiel: Die Untersuchung mit einem Herzkatheter lässt sich gut abrechnen. Deutschland hat im internationalen Vergleich die höchste Zahl an Untersuchungen der Herzkranzarterien.
Fallpauschalen: Kein Geld für Recherchen
Wenn der Arzt stattdessen 15 Minuten damit verbringt, nach vergleichbaren Fällen in der Fachliteratur zu suchen, Berichte abzugleichen und am Ende zu dem Schluss kommt, dass man erst einmal abwarten und nichts am Patienten machen sollte, dann gibt es dafür keinen Abrechnungs-Code und kein Geld.
MOPO: Verstehe ich das richtig: Obwohl der Fokus auf der Wirtschaftlichkeit liegt, wird am Ende viel Geld verschwendet?
Genau. Auch ich bin selbstverständlich dafür, dass wir die Kosten nicht aus den Augen verlieren. Die Resourcen müssen aber sinnvoll eingesetzt werden. Die gute Nachricht ist ja, dass man ohne einen zusätzlichen Cent ins System geben zu müssen, bessere Leistungen erbringen könnte.
Aber derzeit geht viel Geld aus dem System verloren. Gucken sie doch einmal, wie viele Millionen Euro Gewinn einige private Klinikbetreiber jedes Jahr machen. Kein Wunder, dass die Zahl der privaten Kliniken steigt.
200 Krankenkassen mit hochbezahlten Geschäftsführern
Zudem haben wir auch mehr als 200 Krankenkassen, jede von ihnen mit gut bezahlten Geschäftsführern. Gleichzeitig arbeiten Ärzte und Pflegepersonal am Limit, weil Kliniken mit wenig Personal maximale Leistung erbringen wollen.
MOPO: Was bleibt denn auf der Strecke, weil Ärzte im Dauerstress sind?
Natürlich der Patient. Es fehlt an Zeit für ihn. Gesundheit und Heilung werden zu einem Produkt, Ärzte zu Dienstleistern und Patienten zu Kunden. Aber ein Arzt repariert ja keine defekte Maschine, er behandelt einen Menschen.
Ärzte haben keine Zeit für Patienten
Und das ist komplex. Etwa bei einem alten Menschen, der dann nicht nur am Herzen ein Problem hat. Vielleicht hat er auch eine Leber- oder Nierenstörung oder beginnende Demenz. Da braucht es einen weiten medizinischen Blick, um die richtige Entscheidung für sein Wohl zu treffen.
MOPO: Warum macht der Arzt das vielleicht nicht?
Als Arzt wird man daran regelrecht gehindert. Denn ein Herzchirurg im Klinikum darf nichts abrechnen, was internistisch wäre oder ein Fall für die Onkologie. Daher wird dem Patienten nach der Herzbehandlung bei der Entlassung mit auf den Weg gegeben, dass er Leber oder Niere bitte checken lassen solle.
Er geht dann hoffentlich zum Hausarzt damit und der schickt ihn später vielleicht erneut ins Krankenhaus. Die ganze Aufnahmeprozedur geht dann von vorn los. So gerät der Mensch als Ganzes aus dem Blick und es entstehen auch zusätzliche Kosten.
MOPO: Ihr Blick auf das Gesundheitssystem ist ernüchternd.
Ja, dabei bin ich eigentlich begeistert davon, dass Patienten in Deutschland so gut versorgt sind. Besser als in den meisten anderen Ländern in der Welt. Meine kleine Schwester musste in Sri Lanka sterben, weil es für sie keinen Arzt gab.
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Wir können auf die gute Lage in Deutschland stolz sein. Aber die Defizite nehmen zu, Ärzte und Schwestern sind am Limit.
MOPO: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ins Ausland zu gehen, wie es viele Ärzte machen?
Ja. Die Bedingungen etwa in der Schweiz sind viel besser. Aber ich habe in Deutschland die Chance bekommen und hier auf Kosten der Steuerzahler studiert. Da fühle ich mich auch verpflichtet, das zurückzugeben.
MOPO: Dass Sie den Finger in die Wunde legen, schadet das nicht ihrer Laufbahn? Sie kritisieren Klinikleitungen, die am Ende vielleicht einmal Ihre Bewerbung auf dem Tisch haben…
Das kann sein. Aber ich habe keine Angst vor Verlusten. Ich habe als Kind auf der Flucht so viel Angst gehabt, was mit mir passiert. Ob ich es überhaupt bis Deutschland schaffe? Ob ich bleiben darf? Ob ich studieren kann? Und am Ende hat sich mein Traum erfüllt und ich bin Herzchirurg geworden.
MOPO: Hat Sie das viel gekostet?
Ja. Ich habe zwei Jahre länger studiert, weil ich Geld verdienen musste. Ich habe in einem Restaurant Teller gewaschen, bei „McDonald’s“ gejobbt, später nachts Pflegeschichten übernommen. Und jetzt lebe ich in einem wunderbaren, demokratischen Land, in dem ich Probleme offen äußern kann. Ich wäre ja dumm, wenn ich das nach meiner persönlichen Geschichte nicht als ein Geschenk und eine Pflicht erkennen würde.
Buch: Dr. med. Umes Arunagirinathan: „Der verlorene Patient“, Rowohlt Polaris, 224 S., 16 Euro