„Das hatte mit Fußball nichts zu tun“: Kann St. Pauli seine Krise mit Saufen beheben?
Der Kaderumbruch des FC St. Pauli droht zu scheitern, ohne dass er überhaupt richtig begonnen hätte. Das Ergebnis und vor allem die Leistung beim über alle Maßen ernüchternden 1:2 in Braunschweig laden zu dem Schluss ein, dass keine im Sommer ergriffene Maßnahme Wirkung zeigt. Nun könnte man den Regeln der Branche folgen, zuerst Trainer und Sportchef die Verantwortung zuweisen. Das wäre im Fall des Kiezklubs aber zu kurz gegriffen. Eine kommentierende Analyse.
Von den vielen inhaltvollen Sätzen, die Timo Schultz eine halbe Stunde nach dem Abpfiff von Braunschweig in seinem ungeschönten Resümee zum Besten gab, blieb einer besonders haften. „Vielleicht brauchen die Jungs mehr Druck“, hatte St. Paulis Trainer gemutmaßt nach einer Partie, die als wegweisend galt, zu der man mit spärlichen sieben Punkten auf der Habenseite angereist war, der Gegner nur einen mehr.
St. Pauli fehlte gegen Braunschweig der Wille
Mehr Druck. Allein schon diesen Gedanken zu hegen, hat Aussagekraft genug. Schultz, schon zu aktiven Zeiten für tadelsfreie Einstellung zum Job bekannt, wirkte ein Stück weit desillusioniert. Seit Beginn seiner Tätigkeit hat er seinen Schützlingen die Hand gereicht, sie gestärkt und gestützt, wo er konnte. Um an diesem tristen Dezembernachmittag feststellen zu müssen, dass wenig bis nichts zurückkommt vom Gros der Spieler, die den Ernst der Lage immer noch nicht erkannt zu haben scheinen.
Es war bezeichnend, dass eine fußballerisch hauchzart über dem Nullpunkt agierende Eintracht in Sachen Laufbereitschaft (113,6 km) fünf Kilometer über dem Saisonschnitt lag und damit nahezu gleichauf mit St. Pauli (114,1 km), das drei Kilometer unter Schnitt blieb. Aber auch ohne diese Zahlen hatte man den Eindruck, dass die Löwen unbedingt wollten, allerdings eigentlich nicht konnten, und sich die Gäste schon von ein bisschen harmloser Brüllerei ergaben. Oder anders gesagt: Es war eine Frage des Willens. St. Pauli hatte ihn nicht. Punkt.
Nach „fürchterlicher Körpersprache“ – Veränderung muss her
Ein Brummkreisel hier, ein wenig Daddelei dort, ein bisschen zocken, wie der geneigte Profi das heutzutage nennt – „zu wenig, um ein Zweitligaspiel zu gewinnen“, konstatierte Schultz, der gestand: „So ein Spiel … da macht man sich schon Gedanken“, sagte er noch in Braunschweig. „Das hatte mit Fußball nichts zu tun“, am Tag danach. Schultz sieht sich weiterhin als Teil des Teams, als Teil einer Einheit, aber es muss Veränderung her. Und die fing gleich nach der Partie an mit Schultz’ Wortwahl.
„Eine fürchterliche Körpersprache“ attestierte er einigen Profis. Und er thematisierte das, was auch seine Gestik und Mimik transportierte, nämlich die Enttäuschung über Spieler, denen er viel Vertrauen geschenkt habe in den letzten Wochen: „Aber das war wohl der falsche Weg.“ Eine bittere Erkenntnis, die die Frage nach sich zieht: Wie bekommt man eigentlich Zugriff auf eine Profi-Mannschaft beim FC St. Pauli, wenn nach der Gutsherren-Art eines Jos Luhukay auch die Empathie des Timo Schultz nicht funktioniert?
Schultz wünscht sich „Mannschaftsabend“ mit Besäufnis
Und schon machte es wieder die Runde, das schlimme Wort Wohlfühloase. Selbst schuld, sagt Schultz. „Das ist der Vorwurf, den die Mannschaft sich gefallen lassen muss. Es ist einfach so, dass, egal, wer Trainer oder Sportchef war, sie den entscheidenden Schritt in den letzten Jahren nicht gegangen ist. Und jetzt in den letzten Monaten leider auch nicht.“
Ein althergebrachtes Mittel könnte Abhilfe schaffen, so hat es der 43-Jährige einst selbst erlebt. „Ich würde mir einen Mannschaftsabend wünschen, wo sie sich mal richtig einen in die Birne kippen und sich mal untereinander die Meinung sagen.” Auf dass es danach „mal vorwärts geht“. Eine solch gruppentherapeutische Maßnahme lässt die Corona-Lage kaum zu, höchstens einen Kasten Bier in der Kabine.
Fast zwei Stunden Besprechung nach dem Braunschweig-Spiel
Im Gegensatz zum Durst stillten Trainer und Team immerhin den ausgeprägten Gesprächsbedarf. Fast zwei Stunden dauerte gestern das, was Schultz nicht als Aussprache bezeichnet wissen wollte, wo aber doch aus- und angesprochen wurde, was schief läuft. „Wir haben ein paar grundlegende Sachen besprochen: Warum hören wir auf, Fußball zu spielen?“, gewährte Schultz nach dem Training an der Kollaustraße Einblick in die Kabine.
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In seiner unerschütterlich positiven Art sieht er in den drei Spielen bis Weihnachten „die Riesenchance, das Blatt zu wenden. Aber dann muss es jetzt auch losgehen“.