Gesundheitsmobil für Obdachlose: Unterwegs in Hamburg mit den Helfern der ganz Armen
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St. Pauli –
Wenn Obdachlose krank werden, können sie nicht einfach so zum Arzt gehen – denn viele von ihnen sind nicht krankenversichert. Andere sind wegen Sucht oder psychischen Erkrankungen nicht dazu in der Lage. Doch auch sie brauchen medizinische Versorgung. Seit fast eineinhalb Jahren kümmern sich nun schon Ehrenamtliche des „Gesundheitsmobils“ um sie. Die MOPO hat die Ärzte nun bei einer Sprechstunde begleitet.
Später Sonntagvormittag auf der Reeperbahn: Vor der KFC-Filiale an der Ecke zum Hamburger Berg steht Sara Wendland in einem gebrauchten Rettungswagen und zieht sich eine medizinische Schutzmontur an: Ein weißer Ganzkörperanzug, blaue Einmal-Handschuhe, Maske. Dann ist sie für ihren Einsatz bereit. Die Medizinstudentin ist eine der vier Freiwilligen, die heute in der Sprechstunde des „Gesundheitsmobils“ der Obdachlosen-Tagestätte „Alimaus“ Bedürftige versorgen.
Obdachlosenhilfe in Hamburg: Gesundheitsmobil versorgt Bedürftige
Die Sprechstunde geht um 11.30 Uhr los. Die ersten Patienten haben sich aber schon vorher auf dem Bürgersteig versammelt, denn wer zuerst kommt, wird auch zuerst behandelt. Wendland verteilt schon die ersten Wartenummern als Gyde Wegmann eintrifft und sich schnell den blauen Kittel überwirft. Die 54-jährige Internistin arbeitet in einer diabetologischen Praxis in Winterhude. Ein bis zwei Sonntage im Monat ist sie hier zusätzlich Notärztin. Wegmann ist schon seit Projektstart im Juni 2019 dabei. Warum sie sich engagiere? „Weil ich es kann“, sagt sie und lacht. „Es ist eine wichtige Arbeit.“
Nun verwandelt sich der weiße Rettungswagen in ein Behandlungszimmer: Der Patient steig in den Wagen, nimmt auf dem blauen Stuhl im Innenraum Platz, die Autotür wird zum Schutz der Privatsphäre geschlossen.
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Als eine der ersten ist Annika N. dran. Die 44-Jährige wohnt zurzeit in der einer Notunterkunft für Obdachlose. Sie sei alkoholabhängig, versuche aber, das Problem in den Griff zu bekommen, erzählt sie. Jetzt hat sie starke Bauchschmerzen, die sich in ihrem Gesicht abzeichnen. Die Ärztin tastet ihren Bauch ab, fragt nach der Krankheitsgeschichte. Vielleicht eine Leberzirrhose? Die Ausstattung im Mobil ist minimal, weitere Untersuchungen kann Wegmann hier nicht vornehmen.
Sie gibt Annika N. Schmerzmittel, muss dabei darauf achten, dass sie auch mit Alkohol verträglich sind. Wenn es schlimmer wird, soll Annika N. in eine Notfallpraxis gehen, sagt sie. Für die Frau ist das möglich, denn sie ist krankenversichert. Doch die meisten Patienten, die zum Mobil kommen, sind das nicht.
Viele Bedürftige leiden unter Wunden, Hauterkrankungen und Blutdruckproblemen
Mindestens 2000 Menschen leben auf den Straßen Hamburgs – das ergab die letzte Zählung aus dem Jahr 2018. In den zweieinhalb Stunden Sprechstunde werden 24 Patienten versorgt – sechs von ihnen mit Kleinigkeiten vor dem Wagen: Da wird hier mal eine kleinere Wunde an der Hand desinfiziert oder dort mal Läusemittel rausgegeben.
Das Mobil steht jeden Sonntag am Hauptbahnhof, jeden zweiten auch auf der Reeperbahn. Bis zu 30 Menschen kommen zu den Sprechstunden, Tendenz steigend. Am häufigsten sind Wunden, Kopfschmerzen, Hauterkrankungen oder Blutdruckprobleme, erzählt Wendland.
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Die Kommunikation mit den Patienten ist nicht immer einfach. Einige sind suchtkrank und somit wenig verlässlich. Hier werden Symptome bekämpft, eine langfristige Behandlung ist kaum möglich. Andere sprechen kein oder nur gebrochenes Deutsch. Aber mit Händen und Füßen und den geduldigen Wiederholungen der Ehrenamtlichen klappt die Verständigung dann doch.
Und viele Patienten kommen immer wieder. Wie Mariana G. Sie ist auf das Angebot der Ehrenamtlichen angewiesen, denn seit zehn Jahren hat sie Bluthochdruck. Alle zwei Wochen kommt die 51-Jährige her, um sich ihre Medikamente abzuholen. Sie ist arbeitslos und nicht
krankenversichert.
„Ohne das Gesundheitsmobil würde ich meine Medikamente nicht bekommen“, sagt sie. Auch den Ehrenamtlichen merkt man den Frust über die lückenhafte Versorgung von Bedürftigen an: „Die Haltung der Behörde ärgert uns alle, weil sie sich enorm darauf verlässt, dass sich ehrenamtliche Organisationen um die Versorgung der Bedürftigen kümmern und keine eigenen Konzepte entwickelt“, sagt Wegmann.
Tatsächlich sind es ausschließlich Spenden, durch die das Gesundheitsmobil finanziert wird. Medikamente, Schutzausrüstung, Verbandsmaterialien – das läppert sich. Teurere Wundauflagen können schon mal vier Euro pro Stück kosten, gerade die sind aber für Obdachlose besonders nützlich, da sie nicht so häufig gewechselt werden müssen.
Das Gesundheitsmobil wird nur durch Spenden finanziert
„Das laufende Jahr hat 12.000 Euro gekostet“, erzählt Christiane Hartkopf, die Leiterin der „Alimaus“. Zwei Hamburger Initiativen haben den Großteil gestemmt, dazu kommen Sachspenden von Arztpraxen und Privatpersonen. „Das Jahr war etwas günstiger, weil wir während des Lockdowns pausiert haben“, sagt sie. Für das nächste Jahr werden 15.000 Euro benötigt. Noch ist das Geld nicht zusammen.
Mittlerweile ist ein junger Mann wegen der Wartezeit ungeduldig geworden. Nebenan verteilen die „Bergedorfer Engel“ Essen und er hat Angst, keine Mahlzeit mehr abzubekommen. Er ist hibbelig, leicht aggressiv und beschwert sich. Aber Wendland lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Souverän managet sie die kleine unruhige Menschenansammlung vor dem Mobil, achtet darauf, dass sich niemand vordrängelt, desinfizieret Hände, verteilt Masken und misst Fieber – denn erst nach diesen Vorsichtsmaßnahmen dürfen die Bedürftigen den Wagen betreten.
„Manche Leute sind laut und übergriffig“, erzählt Wegmann, „aber die allermeisten sind dankbar und freuen sich, dass wir da sind“. Für viele sind die Ärzte hier auch Vertrauenspersonen, sie kommen, um zu reden. „Wenn mir jemand seine Lebensgeschichte erzählt, werde ich demütig“, sagt Wegmann. „Schicksalsschläge können ganz schnell dazu führen, dass das heile Leben von vorher auf einmal nicht mehr da ist – das könnte jedem von uns passieren.“
Auch Kerstin K. ist hier schon bekannt. Sie hat sich eine Scherbe in den Fuß getreten. Das sei auf der Reeperbahn eben so passiert, erzählt sie der MOPO. Sie ist 55 Jahre alt, lebt seit 27 Jahren auf der Straße und weiß nicht genau, ob sie krankenversichert ist. Jetzt sitzt sie auf der roten Bank vor dem Mobil und unterhält sich ein bisschen mit Wendland, bevor ihr die Scherbe entfernt wird. Anschließend kann sie weiterziehen. Aber was, wenn die Menschen zu krank sind, um auf der Straße zu bleiben? „Dann weisen wir sie in eine Klinik ein“, sagt Ronald Kelm von der „Alimaus“, der hier auch hilft. Ein bis zwei solcher Fälle hätten sie jedes Wochenende im Schnitt.
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Es ist 14 Uhr, die Sprechstunde an der Reeperbahn ist vorbei. Die Ehrenamtlichen ziehen ihre Schutzkleidung aus. Wendland und Kelm holen sich einen Kaffee – für sie geht es jetzt weiter zur nächsten Sprechstunde am Hauptbahnhof.
Dieser Text entstand vor dem zweiten Lockdown.