Lilo Wanders: Die „Sex-Aufklärerin der Nation“ wird 65 – und will nicht in Rente
Als „Aufklärerin der Nation“ nahm Lilo Wanders in der Sendung „Wa(h)re Liebe“ kein Blatt vor den Mund. Das tut sie auch heute noch nicht. Nur Corona hat sie ein wenig ausgebremst. Und damit auch den Mann hinter der Maske.
Was hätte aus Ernie Reinhardt auf der Leinwand und der Theaterbühne nicht alles werden können – „Tatort“-Kommissar, ruppiger Schurke, liebevoller Vater, euphorischer Liebhaber. Stattdessen aber war der gebürtige Niedersachse schnell auf genau eine Rolle festgelegt: auf die der Diva und Sex-Aufklärerin Lilo Wanders. Sie wurde zur Rolle seines Lebens – „und das ist Fluch und Segen zugleich“, sagt Reinhardt im Interview der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg.
Travestiekünstler Ernie Reinhardt wird 65 Jahre alt
Natürlich hat sie ihm das Rampenlicht und damit das Leben mit seiner Familie, einem Hund und zwei Katzen auf einem großzügigen Bauernhof im Alten Land ermöglicht. Doch sie hat ihn auch eingeengt. „Es ist auch ein Fluch, weil man mir nie mehr zugetraut hat. Wenn mein Leben rund wäre, hätte ich gern mehr schöne Rollen gespielt“, sagt Reinhardt. Aber noch ist alles möglich. Am 22. September feiert Ernie Reinhardt mit seiner Familie seinen 65. Geburtstag.
Für öffentliche Interviews und Auftritte schlüpft er stets in die Rolle seiner 1984 geschaffenen Kunstfigur. Freizeit und Arbeit zu trennen, war Reinhardt immer wichtig. Wobei er eine Verschmelzung für eine „tragende Männerrolle in einem Fernsehfilm“ in Kauf nehmen würde. „Damit ich mal zeigen kann, was ich wirklich kann.“ Am liebsten wäre er „Tatort“-Kommissar. „Gern schräg, aber eben nicht definiert als Schwuler. Das ist alles, was ich immer gekriegt habe.“ So hat er 2002 als Barkeeper im Fernsehfilm „Was für eine Nacht“ Christoph Waltz bezirzt und 2016 im Wolfgang-Petersen-Film „Vier gegen die Bank“ als „sehr schwuler“ Maskenbildner Til Schweiger und Jan-Josef Liefers geschminkt. „Eine Minute. Aber das haben sie dann rausgeschnitten. Das habe ich auch eingesehen. Die Szene war leider am Ende für den Film überflüssig“, so Reinhard, der sich als 16-Jähriger geoutet hat.
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Jenseits des Fernsehfilms aber hat Reinhardt durchaus ordentliche Spuren hinterlassen. Als Mitbegründer des Schmidt Theaters auf der Reeperbahn 1988 erschuf er gemeinsam mit Corny Littmann und zwei weiteren Teilhabern ein Stück nicht mehr wegzudenkende Kultur in der Hansestadt. Für das Theater hatte er dann auch Lilo Wanders erfunden – inspiriert durch die Schauspielerin und Diva Evelyn Künneke. Die elegante, näselnde Lilo Wanders kam nicht nur in der Schwulen-Szene gut an. Die „Schmidt Mitternachtsshow“ wurde später auch im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt und Travestiekünstlerin Lilo Wanders bekam bald darauf das Angebot für die Vox-Sendung „Wa(h)re Liebe“ – das sollte sie weltweit bekannt machen.
Orgasmen, Pornos und Swingerclubs
Zehn Jahre lang sprach Wanders dort über Themen wie Orgasmen, Pornos, Swingerclubs, Erotikmessen, Liebe und Co. 750 Millionen Mal wurde das Format über die Zeit eingeschaltet. „Für die 545 Sendungen wurden mir 353 Kostüme auf den Leib geschneidert“, sagt Wanders heute. „„Wa(h)re Liebe“ ist ein Jahr nach Sendestart von Vox on Air gegangen und hat unserem damals noch kleinen Sender nicht nur auf Anhieb gute Quoten, sondern auch über zehn Jahre hinweg viel Aufmerksamkeit beschert. Deshalb haben wir dem Format und damit auch Moderatorin Lilo Wanders viel zu verdanken“, sagt Vox-Programmdirektorin Ladya van Eeden dazu.
Wanders habe offen, direkt, frech, provokant und mit wenig Tabus über Sex geredet. „Sie hat die Diversität verkörpert und damit auch ihren Gesprächspartnern immer das Gefühl gegeben, dass sie sich öffnen können. So sind außergewöhnlich authentische Gespräche zustande gekommen.“
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Durch die Sendung wurde sie einmal mehr zur „Aufklärerin der Nation“ und „Frauenversteherin“, wie sie in Medien immer wieder genannt wurde. „Ist das nicht absurd? Ich stehe auf der Bühne und erzähle ihnen, wie Frauen fühlen und was da körperlich vor sich geht. Und die Männer wissen es meistens gar nicht.“
Olivia Jones: Lilo Wanders war immer mein Vorbild
Auch von ihren Weggefährten wird Wanders geschätzt. Theatermacher Littmann zu dpa: „Sowohl zu ihren Zeiten im Schmidt Theater, als auch als Gastgeberin einer Sex-Talkshow war Lilo die erste regelmäßige Männerstimme in schillernden Frauengewändern im deutschen Fernsehen.“ Das Besondere an ihr sei, dass sich hinter der bunten Fassade der Travestie ein sensibles, riesengroßes Herz verberge.
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Auch Olivia Jones schätzt den trockenen Humor und das große Herz ihrer Kollegin und Entdeckerin. Sie sei ihr immer ein Vorbild gewesen, sagt Jones der dpa. Lilo Wanders sei wegweisend gewesen in Sachen Aufklärung und habe dafür gesorgt, dass die Gesellschaft selbstverständlicher mit Sexualität und dem eigenen Körper umgeht. „Ich bin ihr sehr dankbar, für das, was sie für Dragqueens und Travestie-Künstler gemacht hat.“
Als Aufklärerin arbeitet Wanders noch immer auf der Theaterbühne. Wenn Corona nicht gekommen wäre, würde sie mit ihrem Solo-Programm durchs Land touren und hätte sechs Wochen in Braunschweig Theater gespielt. Und es hätte sogar eine Neuauflage von „Wa(h)re Liebe“ gegeben. So aber ist Wanders „seit dem 8. März“ ohne größere Auftritte. Und das frustriert sehr, sagt Reinhardt dazu. Doch im Oktober soll es endlich weitergehen. Dann wagt sich Lilo Wanders auf neues Terrain. Auf ein Kreuzfahrtschiff. „14 Tage, 8 Auftritte und immer durch die Ostsee.“
Die „Aufklärerin der Nation“ geht noch nicht in Rente
Von Rente oder Ruhestand will Reinhardt erstmal noch nichts wissen. Lilo Wanders wird also weiterhin im Sommer als Stadtführerin der Olivia-Jones-Familie durch den Kiez touren, Theater spielen und solo bundesweit auftreten. „Kürzertreten kann ich mir nicht leisten – und es gibt mir auch was. Es geht mir seelisch gut, wenn ich einen erfolgreichen Abend hinter mir habe.“
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Reinhardt mag sein Leben. Seins und das als Lilo Wanders. „Ich hab die ganze Welt gesehen. Wenn ich auf mein Leben gucke, kann ich sagen: Es war alles richtig. Es war bisher ein tolles Leben.“ Feiern will er das bei Kaffee und Kuchen in einem kleinen Café in Hamburg – mit seiner Frau, seinen Söhnen und den beiden Enkeln. Das ist trotz seiner sexuellen Gesinnung so erfolgreich möglich. „Die Liebe macht alles möglich, tatsächlich. Es gibt so viel mehr Möglichkeiten als man uns früher weismachen wollte.“ (dpa)