Nazi-Verbrechen in Hamburg: Ein Brief voller Hass auf jüdische Kinder
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Leider lebt Emma Lange nicht mehr, und so wissen wir nicht, was sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen hätte. Ob sie ihr Handeln irgendwann einmal bedauert hat? Emma Lange war Leiterin der Volksschule Schanzenstraße, und als sie 1942 in ihrem Schulgebäude Platz für die letzten in Hamburg verbliebenen jüdischen Schüler schaffen sollte, da ging sie auf die Barrikaden und schrieb einen Brief mit erschütterndem Inhalt. Ein Zeitdokument des Hasses.
In dem Brief an die Schulbehörde heißt es: An die Anwesenheit von Juden sei das Umfeld ihrer Schule „nicht gewöhnt“. Jüdische Kinder würden den „guten Ruf der Schule gefährden“. „Besser gestellte Personen aus den Vorderhäusern“ und „Parteigenossen unter den Eltern“ würden ihre Kinder bestimmt sofort umschulen. Jüdische und nicht jüdische Kinder, die gemeinsam ihre Pausen auf dem Schulhof verbringen – ein solches „enges Beisammensein arischer Personen mit jüdischen Kindern muss im Dritten Reich als unhaltbar abgelehnt werden.“ Was für hasserfüllte Sätze!
Schulleiterin Emma Lange: „Juden gefährden den Ruf unserer Schule“
Emma Langes Protest verfehlte seine Wirkung nicht. Hamburgs Reichsstatthalter Karl Kaufmann, der oberste Nazi in der Stadt, beendete den Streit und erließ am 29. April 1942 eine Verfügung, wonach „eine Unterrichtung von Judenkindern in Schulen sofort aufzuhören“ habe. Drei Monate später wurden sämtliche jüdischen Schüler Hamburgs, ihre Eltern und ihre Lehrer ins KZ Theresienstadt deportiert – was allerdings, das muss gesagt werden, auch ohne Emma Langes Hassbrief passiert wäre.
In dem Dorf Hastings-on-Hudson im US-Bundesstaat New York lebt Erika Estis: Sie ist bald 99 Jahre alt und sie war Schülerin der Israelitischen Töchterschule an der Karolinenstraße. Was jüdische Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus zu erdulden hatten und wie es ihr gelang zu überleben – das hat sie nun MOPO-Reportern berichtet.
Leben in New York: Erika Estis (98) ist die letzte Überlebende
Aufgewachsen ist sie in einem Haus an der Ecke Fruchtallee/Vereinsstraße, in dem ihr Vater Paul Freundlich seit 1910 eine Apotheke betrieb. „Direkt darüber war unsere Wohnung. Nach Hitlers Machtergreifung wurden wir von Nachbarskindern gemieden und beschimpft, Jungs zeigten uns stolz ihre HJ-Uniformen.“
Mit Schaudern denkt sie an den 1. April 1933, den Tag des „Judenboykotts“, als SA-Männer mit weißer Farbe „Jude“ auf die Schaufensterscheibe der Apotheke schmierten und draußen Posten bezogen.
Bald darauf war Juden fast alles verboten: „Wir Kinder durften nicht mal mehr auf die Spielplätze.“ Tabu waren auch Kinos, Schwimmbäder und Theater. In der Straßenbahn mussten Juden auf der vorderen Plattform stehen und durften sich nicht unterhalten. Alle hatten Judensterne am Revers zu tragen, schon die Kleinsten.
Der einzige Ort der Geborgenheit, der den Kindern blieb: die Schule. Die Klassen wurden aber zusehends kleiner, weil immer mehr Familien es nicht mehr aushielten und emigrierten – plötzlich waren enge Schulfreunde nicht mehr da. „Die Völkerwanderung dauert noch an“, schrieb 1933 ein jüdischer Schüler an einen Freund. „Günter und Du, Ihr seid fort. Edgar rüstet nach Amerika. Anni hat das Studium aufgegeben und glaubt, in einem halben Jahr nach Erez fahren zu können. Es wird öde und leer um mich.“
Lehrerin Bertha Loewy rettete Erika Estis das Leben
Der 9. November 1938, der Pogrom gegen jüdische Geschäfte und Synagogen, stellte einen bedeutenden Wendepunkt dar: Wer bis dahin noch dachte, es werde schon alles nicht so schlimm, sah sich jetzt eines Besseren belehrt. Die Zahl der Ausreisewilligen unter den verbliebenen Juden nahm plötzlich extrem zu.
„Genau zu dieser Zeit hat mich eine Lehrerin angesprochen und mir erzählt, dass demnächst ein Kindertransport nach England stattfinden werde“, so Erika Estis. „Ich solle doch mal meine Eltern fragen, ob ich da nicht mitfahren darf.“ Heute weiß sie: „Diese Lehrerin – Bertha Loewy hieß sie – hat mir das Leben gerettet.“
Erika Estis hat ihre Eltern nie mehr wiedergesehen
Schon zehn Tage später saß Erika Estis in ihrem Zug in die Freiheit. Noch heute kommen ihr die Tränen, wenn sie an den Abschied am Bahnhof Altona denkt: „Mein Vater hat geweint, so viel geweint, und ich konnte es nicht ertragen … Ich habe niemals meine Mutter angeblickt, ich wollte sie nicht ansehen, vielleicht wird sie weinen, dann würde ich auch weinen … Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“
Im Herbst 1941 schloss Nazi-Deutschland seine Grenze: Es gab für Juden nun kein Entkommen mehr. Gleichzeitig begannen die Deportationen. Unter denen, die im Oktober und November 1941 nach Lodz und Minsk verfrachtet wurden, gehörten auch viele Familien mit schulpflichtigen Kindern. Und so fand Dr. Alberto Jonas, der Leiter der Israelitischen Töchterschule an der Karolinenstraße, sein Haus um die Jahreswende 1941/42 so leer vor wie nie zuvor. Seit Auflösung der Talmud-Tora-Schule 1939 war sie die letzte jüdische Schule in der Stadt. Hier wurden Jungen wie Mädchen unterrichtet. Aber nur noch 76 Schüler waren übrig.
„Deutschblütigen Kindern ist der Vorrang zu geben“
Im Frühjahr 1942 wurde Schuleiter Jonas aufgefordert, die Turnhalle zu räumen, damit die benachbarte Volksschule Kampstraße und deren „arische“ Schüler sie nutzen konnten – deren Sporthalle war bei einem Bombenangriff zerstört worden. Als dann kurz darauf nach einem neuen Gebäude für die Sprachheilschule gesucht wurde, fand die Schulverwaltung, „dass unter allen Umständen den 400 deutschblütigen Schülern der Sonderschule der Vorrang vor den 100 Judenkindern zu geben“ sei.
Die jüdischen Schüler mussten also raus – aber wohin? Als sich gegen die Idee, für sie in der Volksschule an der Schanzenstraße Platz zu schaffen, Widerstand regte – Emma Langes antisemitisches Schreiben war da nur ein Beispiel – wurde die traditionsreiche Israelitische Töchterschule am 14. Mai 1942 ersatzlos aufgelöst.
An der Volksschule Schanzenstraße begann die Reise ohne Wiederkehr
Danach dauerte es kein Vierteljahr mehr, bis Schüler und Lehrer eine Reise ohne Wiederkehr antraten: Sie gehörten zu den knapp 1700 Personen – darunter auch viele ältere jüdische Mitbürger – die am 15. und 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Als Sammelstelle für die Transporte war ausgerechnet Emma Langes Volksschule ausersehen. Dort trafen die Todgeweihten frühmorgens ein, um zum Hannoverschen Bahnhof gebracht zu werden.
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Mit dabei auch Schuldirektor Alberto Jonas. Am Bahnsteig traf er den berüchtigten Gestapo-Judenreferenten Claus Göttsche, der Jonas sogar noch gut zuredete. „Ach, sorgen Sie sich nicht, Herr Dr. Jonas“, soll Göttsche gesagt haben. „Sie werden Ihre Schule haben in Theresienstadt. Und Sie werden sehen, da ist es sehr schön.“
Emma Lange blieb trotz ihres Hassbriefes Schulleiterin bis 1957
Eine faustdicke Lüge. Jonas wurde im Ghetto nicht Schulleiter, sondern zum Kohlenschaufeln eingeteilt. Sechs Wochen nach seiner Ankunft starb er – wie seine Tochter Esther Bauer glaubt an „gebrochenem Herzen“.
Von den letzten 28 Lehrern und Lehrerinnen, die 1941 noch in der Karolinenstraße unterrichtet hatten, kamen bis auf drei alle um.
Von den deportierten Schülern der Israelitischen Töchterschule haben nur elf das NS-Regime überlebt.
Erika Estis’ Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie selbst wanderte 1946 von England in die USA aus, wo sie heiratete und eine Familie gründete. Sie hat drei Kinder, sieben Enkel und im September kommt ihr siebtes Urenkelkind zur Welt.
Emma Lange, die Schulleiterin und Verfasserin des Hassbriefes, blieb bis 1957 Leiterin der Schule Schanzenstraße. Ein ihr wohlgesinnter Schulrat half dabei, ihre NS-Vergangenheit zu kaschieren. Sie starb 1971.
Gedenkveranstaltung am Donnerstag
Am kommenden Donnerstag, 8. April 2021, wird es um 17 Uhr eine Livestream-Kundgebung geben, bei der an die deportierten Schüler der Israelitischen Töchterschule erinnert wird – und auch an das Verhalten von Emma Lange, der Schulleiterin der Volksschule Schanzenstraße. Aus den USA wird Erika Estis zugeschaltet sein. Besuchen Sie die Webseite www.sternschanze1942.de, um an der Livestream-Veranstaltung teilzunehmen.
➤ Für die Zeit nach dem Corona-Shutdown ein wertvoller Hinweis: Besuchen Sie die Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße. Ein fast komplett erhaltener historischer Klassenraum ist zu sehen. Bereits jetzt kann die Online-Ausstellung „Kinderwelten. Neue Blicke auf die Geschichte des jüdischen Schullebens in Hamburg“ besucht werden: juedische-geschichte-online.net/ausstellung/kinderwelten#home. Sehenswert!