• Joseph Carlebach, ab 1936 Hamburgs Oberrabbiner. Er war charismatisch, imposant und dominant. Ein großer jüdischer Weiser.
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NS-Zeit in Hamburg: Der furchtbare Mord am „Rabbi vom Grindel“

Es war ein perfides Täuschungsmanöver: Um sie in Sicherheit zu wiegen, hatten die Nazis den Gefangenen versprochen, sie in ein besseres Lager zu bringen. Stattdessen wurden sie mit Bussen und Lastkraftwagen in den Hochwald von Bikernieki bei Riga transportiert, wo die Gruben schon ausgehoben waren. Die Todgeweihten wurden hineingetrieben, dann begann das Maschinengewehr zu rattern. Am Abend des 26. März 1942 waren 1800 Menschen tot. Einer von ihnen: Oberrabbiner Joseph Carlebach, eine Seele von Mensch. Es war seine Synagoge, deren Wiederaufbau derzeit diskutiert wird. Der Platz, auf der sie stand, trägt seinen Namen.

Ein „großer jüdischer Weiser“ sei er gewesen, sagte einmal Altbürgermeister Henning Voscherau (SPD) über Carlebach. Eine standhafte, vorbildliche Persönlichkeit. „Er war eine Erscheinung: charismatisch, imposant, dominant. Wenn er auf der Kanzel stand und predigte, hörten die Leute gebannt zu.“ So erinnerte sich Miriam Gillis-Carlebach, die inzwischen verstorben ist, an ihren Vater.

Hamburgs Oberrabbiner Joseph Carlebach: Mit seiner Frau Charlotte hatte er neun Kinder

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Joseph Carlebach, Hamburgs Oberrabbiner, zusammen mit seiner Frau und den neun Kindern.

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MOPO-Archiv

Joseph Carlebach, der „Rabbi vom Grindel“, wird am 30. Januar 1883 in Lübeck geboren. Er ist Sproß einer hoch angesehenen Rabbinerfamilie, deren Geschichte sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Joseph Carlebach studiert zunächst Naturwissenschaften, Astronomie, Philosophie und Kunstgeschichte. 1905 besteht er sein Examen als Oberlehrer und folgt wenig später einem Ruf an das jüdische Lehrerseminar in Jerusalem, das der Hilfsverein der deutschen Juden gegründet hat.

Nach seiner Rückkehr 1907 arbeitet er an seiner Dissertation über den jüdischen Mathematiker Gersonides und promoviert 1909 in Heidelberg. Die Veröffentlichung dieser Forschungsarbeit sowie eine Pionierarbeit über Einsteins Relativitätstheorie bringen Carlebach hohe akademische Anerkennung ein.

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Soll er Forscher werden? Oder Geistlicher? Er entscheidet sich für den gleichen Weg wie seine Vorfahren und studiert am orthodoxen Berliner Rabbinerseminar, wo er 1914 seine Ordination empfängt.

Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnimmt, heiratet er in Berlin seine ehemalige Schülerin Charlotte Helene Preuss. Zurück in Lübeck tritt Carlebach als Nachfolger seines verstorbenen Vaters die Stelle als Seelsorger in der Jüdischen Gemeinde an.

Carlebach leitet ab 1921 die Talmud-Tora-Schule

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Bewacht von der Polizei: die Talmud-Tora-Schule. Sie wurde einst von Carlebach geleitet.

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1921 geht Carlebach nach Hamburg. Gemeinsam mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern Eva Sulamith und Esther Helen bezieht er eine Wohnung in der Bieberstraße – in unmittelbarer Nähe zu seiner neuen Wirkungsstätte: Carlebach wird Rektor der Talmud-Tora-Schule im Grindelviertel. Er ist ein ausgezeichneter Pädagoge und führt moderne Lehrmethoden ein. Als er sie 1926 an seinen Nachfolger übergibt, handelt es sich um eine der führenden höheren jüdischen Lehranstalten im deutschen Sprachraum.

1926 steigt Carlebach zum Oberrabbiner der damals noch selbstständigen Stadt Altona auf, bevor er 1936 an die Bornplatzsynagoge berufen wird.

In der Bornplatzsynagoge hält Carlebach seine Predigten

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Ihr Wiederaufbau wird zurzeit diskutiert: die Bornplatzsynagoge im Grindelviertel. Hier predigte Joseph Carlebach. Der leere Platz ist heute nach ihm benannt.

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Staatsarchiv Hamburg

Inzwischen sind die Nazis an der Macht – das Leben für Juden ist längst unerträglich und wird immer noch schlimmer.  SA-Schergen stehen vor den Läden, brüllen: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Im November 1938 stecken Nazis die Bornplatzsynagoge in Brand, in der Carlebach seine Predigten gehalten hat.

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Joseph Carlebach und seine Frau Charlotte haben sieben Töchter und zwei Söhne. Für den Rabbi selbst kommt Emigration nicht in Frage, denn das hieße, seine Gemeinde im Stich zu lassen. Aber für einige der Kinder organisieren die Eltern die Ausreise: Judith Jeanette und Julius Isaak gelangen bereits im Dezember 1938 mit einem Kindertransport nach England. Im Frühjahr 1939 reisen die beiden ältesten Mädchen, Esther und Eva Sulamith, ebenfalls nach England. Tochter Miriam – bereits früh eine glühende Anhängerin des Zionismus – besucht 1938 das jüdische Landjugendheim Wilhelminenhöhe in Blankenese, wo sie landwirtschaftlich unterrichtet und auf ein Leben in Palästina vorbereitet wird. Am 8. November 1938 – am Tag vor der Reichspogromnacht – verlässt sie Hamburg.

Die Nazis machen Hamburgs Juden das Leben zur Hölle

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Auch in Finkenwerder terrorisieren Nazis jüdische Geschäftsleute. Aufgenommen vor dem Geschäft von Hermann Rimberg, Norderdeich 20

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Staatsarchiv Hamburg

Der Historiker Dr. Andreas Brämer vom Hamburger Institut für die Geschichte der Juden schreibt, dass es allein der Mutter „Lotte“ Carlebach vergönnt gewesen sei, ihre „englischen“ Kinder nochmal in die Arme zu schließen. Sie begleitet im Juni 1939 einen weiteren Kindertransport nach London und verbringt dort mehrere Wochen, bevor sie mit dem Flugzeug die Rückreise nach Hamburg antritt. „Nach Kriegsbeginn waren Lotte und Joseph Carlebach nahezu vollständig abgeschnitten von ihren im Ausland lebenden Töchtern und Söhnen“, so Brämer. „Nur noch spärlich und auf Umwegen gelangten Nachrichten aus England und Palästina zu den besorgten Eltern.“

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Boykott-Aktion am 1. April 1933: SA-Männer an der Grindelallee

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Staatsarchiv Hamburg

Ab 1938 verschärfen die Nazis den Terror noch

Als im Oktober 1941 die jüdische Auswanderung aus Deutschland per Dekret verboten wird, leben noch 7500 Juden in Hamburg – und die Nazis beginnen damit, die „Endlösung“ voranzutreiben. Dazu gehört auch, die jüdischen Bewohner in bestimmten Quartieren, sogenannten „Judenhäusern“, zu konzentrieren, um sie schneller deportieren zu können. Bereits im April 1939 hat ein Reichsgesetz dem Mieterschutz und der freien Wohnungswahl für Juden ein Ende gemacht.

Die Familie Carlebach hat Glück, dass sie in ihrer Mietwohnung in der Ostmarkstraße (heute wieder Hallerstraße) bleiben darf.  Auch bleibt es Joseph Carlebach und seiner Frau erspart, Zwangsarbeit leisten zu müssen. Dazu können arbeitsfähige Jüdinnen und Juden seit 1940 herangezogen werden.

Inzwischen ist es Juden verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, sie dürfen nur bestimmte Geschäfte aufsuchen, müssen alle Radiogeräte abgeben. Ab dem 19. September 1941 wird es Pflicht, den „Judenstern“ gut sichtbar an der Kleidung zu befestigen, wann immer sie das Haus verlassen. Carlebach selbst ist es, der die Anordnung von der Kanzel verkündet, verbunden mit dem Appell, das gelbe Stück Stoff mit Stolz zu tragen.

Am Hannoverschen Bahnhof starten die Transporte in den Tod

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Der Hannoversche Bahnhof: Von hier wurden jüdische Bürger Hamburgs deportiert in den Tod.

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Staatsarchiv Hamburg

Im Oktober 1941 beginnen die Deportationen. Am 6. Dezember werden 800 Menschen am Hannoverschen Bahnhof in Eisenbahnwaggons gesperrt und Richtung Osten gebracht – darunter Carlebach, seine Frau und die Kinder Salomon, Noemi, Ruth und Sara. Der gesamte Transport wird in dem Glauben gelassen, die Reise gehe nach Riga, wo nach der Besetzung durch die Wehrmacht ein jüdisches Ghetto eingerichtet worden ist. Tatsächlich endet die Reise in Skirotava, einem kleinen Verladebahnhof, der etwa zwölf  Kilometer von der lettischen Hauptstadt entfernt liegt. Von dort müssen die Verschleppten zu dem bereits überfüllten Arbeitslager „Jungfernhof“ marschieren.

Carlebach ist wie ein „Licht in der Finsternis“

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Joseph Carlebach, ab 1936 Hamburgs Oberrabbiner. Er war charismatisch, imposant und dominant. Ein großer jüdischer Weiser.

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Das Lager ist die Hölle. Es handelt sich um ein ehemaliges Staatsgut, das für die Aufnahme von mehreren Tausend Menschen völlig ungeeignet ist. „Es gab keine Türen, keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune“, erinnert sich ein Überlebender. Carlebach erkrankt zwar, organisiert im Lager aber trotzdem den Unterricht und die Gebete, er versucht, Ruhe auszustrahlen und den anderen Hoffnung zu geben.

„Wer die Erinnerungsberichte von Überlebenden aus ,Jungfernhof‘ liest“, so Historiker Brämer, „gewinnt eine ungefähre Ahnung nicht nur von den organisatorischen Leistungen, die Carlebach im Verlaufe des Winters vollbrachte, sondern auch von dem Trost und Zuspruch, die von seiner Person ausgingen. In den Augen vieler Häftlinge war der Geistliche das ,Licht in der Finsternis‘, weil er sich gemeinsam mit seiner Frau der Aufgabe widmete, ,das Los der Schwachen‘ zu erleichtern, Rat zu erteilen und Halt zu geben.“

Auf dem Gut müssen die Gefangenen Schwerstarbeit in der Landwirtschaft leisten. Wer dazu körperlich nicht in der Lage ist, wird von der SS aussortiert: Bereits im Februar 1942 schaffen die Nazis Kranke und Alte aus „Jungfernhof“ weg und ermorden sie. Im Monat darauf kommt es dann zur sogenannten „Aktion Dünamünde“.  Die Häftlinge werden in dem Glauben gelassen, sie würden in ein  besseres Lager nach Dünamünde verlegt, wo sie angeblich in einer Fischkonservenfabrik arbeiten sollen.

Im Wald von Bikernieki endet das Leben des Rabbi Carlebach

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Gedenkstätte von Bikernieki in der Nähe von Riga (Lettland): Hier wurde Carlebach ermordet.

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Auch die Namen von Joseph und Lotte Carlebach und der Töchter Ruth Rosa Cilly (15 Jahre), Noemi (14 Jahre) und Sara Stella (13 Jahre) stehen auf der Transportliste. Lediglich der 16-jährige Salomon Peter, der einem Arbeitskommando zugeteilt ist, soll in „Jungfernhof“ zurückbleiben. Mit Bussen und Lkw werden die Todgeweihten in den Wald von Bikernieki bei Riga verfrachtet, in bereits ausgehobene Gruben getrieben – und erschossen. Heute ist dort eine Gedenkstätte. Es handelt sich um das größte Massengrab der NS-Geschichte, denn in Bikernieki werden zwischen 1941 und 1944  rund 35.000 unschuldige, wehrlose Menschen ermordet und verscharrt.

Die Schoah überlebt allein Salomon Carlebach, der eine Odyssee durch Ghettos und Konzentrationslager durchmacht. Im März 1945 wird er in der Nähe von Danzig halb verhungert von der Roten Armee befreit. Er ist 20 Jahre alt, als er nach Hamburg zurückkehrt. 1947 wandert er in die USA aus und wird Rabbiner in New York. 

Allein Salomon Carlebach überlebt die Shoah

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Ab 1941 müssen alle Juden den sogenannten „Judenstern“ tragen.

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Olaf Wunder

1994 sagt er in einem Interview über den Augenblick, an dem er seinen Vater zum letzten Mal sah: „Ich weiß, dass mein seliger Vater in diesem Moment wusste, dass die letzte Stunde gekommen war und dass er in den sicheren Tod gehen würde, obwohl er nichts gesagt hat. Natürlich haben viele der Leute gemeint, dass sie jetzt wirklich in ein anderes Lager gebracht würden, in dem die Umstände viel besser wären.“

Seine Schwester Miriam Gillis-Carlebach erfährt wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs von der Ermordung ihrer Eltern und ihrer drei jüngeren Schwestern. „Ich fand die Nachricht so unfassbar“, sagt sie, „dass ich sie nicht begreifen konnte. Obwohl wir schon wussten, dass viel passiert war, war es doch eine schreckliche, unvorbereitete Nachricht.“

Miriam Gillis-Carlebach wird in der Bundesrepublik sehr geehrt

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Tochter Miriam Gillis-Carlebach wurde in Israel Professorin für Pädagogik, Soziologie und jüdische Geschichte.

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Miriam Gillis-Carlebach wird später in der Bundesrepublik mit vielen Ehrungen bedacht. Sie wird Ehrensenatorin der Freien und Hansestadt, Ehrenprofessorin der Universität Hamburg, Ehrendoktorin der Universität Oldenburg und sie erhält 2008  für ihre langjährigen Verdienste zur Förderung der deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen das Bundesverdienstkreuz. Bereits seit 2003 verleiht die Universität Hamburg den Joseph-Carlebach-Preis, mit dem  Bemühungen um Verständigung, Zusammenarbeit und gemeinsames Erinnern gewürdigt werden sollen.

Gillis Carlebach macht sich in ihrer zweiten Heimat Israel einen Namen als Erziehungswissenschaftlerin. Sie widmet sich seit den 70er Jahren der Erforschung des deutsch-jüdischen Kulturerbes. Sie bringt in einer vierbändigen Ausgabe ausgewählte Schriften ihres Vaters als Buch heraus. 1992 gründet sie an der Bar Ilan Universität das Joseph Carlebach-Institut.

Auch ihrer Mutter setzt Miriam Gillis-Carlebach ein Denkmal: Ihre Familienchronik aus der Perspektive von Lotte Carlebach – das Buch trägt den Titel „Jedes Kind ist mein Einziges“ – wird zu einem Bestseller.

Seit den 1980er Jahren reist Miriam Gillis-Carlebach immer wieder nach Hamburg, um in ihrer ehemaligen Heimatstadt Kontakte zu knüpfen und das Gespräch zu suchen. „Wie schwer es ihr gefallen sein muss“, so Historiker Andreas Brämer, „das Land der Mörder ihrer Familie aufzusuchen, ist kaum einzuschätzen.“

Miriam Gillis-Carlebach stirbt am 28. Januar 2020 – wenige Tage vor ihrem 98. Geburtstag.

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