Shutdown auf der Reeperbahn: „Der ganze Kiez geht den Bach runter“
Auch in dem Sexshop „Boutique Bizarre“ wird jetzt mit Mundschutz gearbeitet.
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St. Pauli –
Zehntausende Menschen besuchen normalerweise den Kiez rund um die Reeperbahn. Aber in den Zeiten der Corona-Krise ist alles anders: Die sonst so bunt schillernde sündigste Meile der Welt wirkt trostlos. Doch es gibt einige, die gar eine neue Schönheit darin sehen.
„Ich als Künstlerin habe ein Riesenproblem: Der ganze Kiez geht den Bach runter.“ Devina Devil sitzt mit ihren Freunden Dali und Consti auf dem Spielbudenplatz vor der Davidwache in der Sonne und ärgert sich über Corona und den Shutdown auf der Reeperbahn.
Tagsüber arbeitet er in einer Pizzeria, abends mit blonder Mähne, viel Make-up und langen Wimpern als Musicalsängerin – eigentlich. Doch seit Wochen schon geht nichts mehr auf der sündigsten Meile der Welt. Die Corona-Einschränkungen haben auch das Wirtschaftsleben nahezu zum Erliegen gebracht.
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„95 Prozent der Betriebe auf St. Pauli sind vom Publikumsverkehr abhängig“, weiß Reeperbahn-Quartiersmanagerin Julia Staron. „Wenn man alle mitzählt – von der kleinen Kneipe bis zur Bühne und zum Hotel -, sind wohl 1000 Betriebe auf dem Kiez betroffen.“ Und die Chancen, die Umsatzverluste wieder reinzuholen, wenn es wieder losgeht, seien begrenzt. „Eigentlich ist es gar nicht möglich“, sagt sie. „Die Theater haben ja dann nicht mehr Plätze, sie können nicht mehr Shows spielen, und die Künstler können auch nicht mehr Konzerte geben.“ Staron spricht von einem Teufelskreis. „Und realistischerweise müssen wir davon ausgehen, dass nicht alle Betriebe es schaffen können.“
Corona: Ausbleibende Touristen legen Geschäfte lahm
Da hilft es auch wenig, dass der Einzelhandel seit Wochenbeginn die Läden wieder öffnen kann – unter Auflagen und mit gebotenem Abstand. Bei Crazy Jeans an der Ecke Reeperbahn/Silbersackstraße hat Geschäftsführerin Sabine Beck die Türen aufgesperrt – in 50 Geschäftsjahren mit Sieben-Tage-Woche waren sie in den letzten Wochen überhaupt das erste Mal verschlossen geblieben.
Der Andrang nun hält sich stark in Grenzen. „90 Prozent unserer Kunden sind Touristen“, sagt Beck. Und die sind nun erst einmal weg.
Erotik-Kaufhaus öffnet 800 m² des Geschäfts
Etwas besser sieht der Geschäftsführer der Boutique Bizarre, Kay Arnold, die Lage. Als nach eigenen Angaben größtes Erotik-Kaufhaus Europas liegt ein Schwerpunkt seines Sortiments bei SM und Bondage. „Und da gibt es mit Sicherheit eine ganze Menge Bedarfskunden.“
Um wieder verkaufen zu können, hat Arnold einen Teil des Ladens abgesperrt. Nur 800 Quadratmeter sind erlaubt. Die Angestellten stehen mit Mundschutz hinter Scheiben aus Plexiglas an den Kassen.
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Ein paar hundert Meter weiter die Reeperbahn rauf sind die 55 Zimmer des Pink Palace verwaist, in denen sonst Prostituierte ihren Geschäften nachgehen. „Wir wussten ja vorher, dass wir zumachen müssen, konnten es aber nicht glauben“, sagte Geschäftsführer Thorsten Eitner. Als es dann Mitte März wirklich soweit war, habe er das erst von einem Nachbarn erfahren. „Ich habe dann bei der Davidwache angerufen. Die haben mir das bestätigt.“
Mitarbeiter des „Pink Palace“ in Kurzarbeit
Für seine 18 Angestellten hat er Kurzarbeitergeld beantragt, für die Firma Soforthilfe. „Die kam auch ruckzuck. Damit konnte ich die Miete bezahlen.“ Viele der Prostituierten, die in seinem Haus die Zimmer mieten, hätten als Solo-Selbstständige ebenfalls Soforthilfe beantragt und auch erhalten. „Das habe ich zumindest gehört“, sagt Eitner. Wie und wann es weitergeht, vermag auch er nicht zu sagen. „Aber je länger es dauert, werden die Damen vielleicht auch vermehrt in die Illegalität abwandern“, befürchtet er.
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Für Recht und Gesetz sorgen auf dem Kiez die Polizeibeamten der Davidwache. Auch ihr Job hat sich durch das Virus verändert, sagt Revierleiter Ansgar Hagen. „Vor der Corona-Krise lag ein polizeilicher Schwerpunkt in der Bekämpfung der Gewaltkriminalität – gefährliche Körperverletzung, einfache Körperverletzung, aber auch Eigentumsdelikte rund um Raubstraftaten, ganz viel Taschendiebstahlsdelikte.“ Das steht nun nicht mehr im polizeilichen Fokus. „Die Menschen sind hier nicht mehr so zahlreich unterwegs, und das wirkt sich eben auch auf diese Phänomene aus.“
„Wir sind da“ – Polizei zeigt verstärkt Präsenz auf dem Kiez
Ruhige Zeiten für die Polizei seien es aber dennoch nicht. „Das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen muss beachtet werden – gerade in diesen Zeiten, wo wir über gesundheitliche Gefahren und wirtschaftliche Existenzängste sprechen.“ Deshalb zeige die Polizei verstärkt Präsenz. „Wir wollen ansprechbar sein. Der Bürger soll merken, wir sind da.“
Auf dem Kiez gebe es auch Ladenbesitzer, die ihre Fenster zum Schutz vor Einbrüchen während des Shutdown mit Holzplatten gesichert hätten. „Das macht etwas mit dem Stadtteil“, sagt Hagen und verspricht: „Dieser Stadtteil wird weiter sicher sein.“ Dafür sorgten auch die Zivilfahnder, die nach wie vor im Einsatz seien. „Wir sind weiter im Stadtteil unterwegs und schauen, dass sich alle an Recht und Gesetz halten.“
Wegen Corona: Gespenstisch leerer Kiez
Sonst seien an „normalen Wochenenden“ in der Spitze täglich etwa 25000 Menschen auf dem Kiez unterwegs, bei Veranstaltungen wie Schlagermove oder Harley Days noch deutlich mehr. Deshalb wirke der leere Kiez nachts jetzt „fast schon gespenstisch“, sagt Hagen. „Der Stadtteil hat sich diesbezüglich völlig verändert. Das ist ein neues Gesicht, an das man sich erst einmal gewöhnen muss.“
Nur einen Steinwurf von der Herbertstraße entfernt, die mit den nun leeren Stühlen der Prostituierten in den Schaufenstern irgendwie fluchtartig verlassen wirkt, steht Schauspieler und Autor Michel Ruge auf den Stufen seines Haus. Als Sohn eines Bordellbesitzers ist er auf dem Kiez aufgewachsen. Der neuen Situation kann er durchaus auch Positives abgewinnen. „St. Pauli ist gerade so schön“, schwärmt er. „Ich glaube, so hat man es noch nie in 100 Jahren erlebt.“ (dpa/mp)