Verfahren gegen „Bild“-Boss: Kommentar: Nein, das ist nicht Merkels Rache
Kommentar –
„Bild“-Boss Julian Reichelt (40) wurde zum Opfer von Merkels Zorn; er findet ihre Corona-Politik sei ein „Total-Debakel“ – sie hängt ihm deshalb flugs ein Verfahren wegen Nötigung und Mobbing von Mitarbeitern an den Hals. So lauten die neuesten Welterklärungsversuche auf Twitter, der Blase der Dämlichkeit. Doch keine Sorge, liebe Verschwörungsschwurbler: Boulevard-Wildfang Julian Reichelt hat mehr Einfluss auf das politische Klima in Deutschland, als Merkel auf die „Bild“-Redaktion.
Der leidenschaftliche Einsatz der Twitter-Verschwörer für den Chef ihrer Lieblingszeitung ist rührend armselig. Für sie ist klar: Das Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt, dem mehrere „Bild“-Mitarbeiter Nötigung und Mobbing vorwerfen, ist die Rache Merkels, da Reichelt zuvor ihre Politik in einer Video-Analyse als „Totalausfall“ abkanzelte und ihr attestierte, sie habe es „historisch vergeigt“. Denn schließlich wagte er den revolutionären Satz: „Ich hoffe nur noch, dass diese Regierung bald durch eine neue ersetzt wird“. Und das kurz vor Merkels Abgang aus der Politik! Böse, böse. Klar, dass Merkel da vor Angst schlotterte und Rache schwor. Oder?
Twitter-User sehen Reichelt-Verfahren von Merkel gelenkt
Auf Twitter ereifern sich die Schwurbler jedenfalls über die „korrupten Netzwerke“, „SED-Methoden“ und dass „wieder ein Merkel-Kritiker aus dem Weg geräumt werde“. Und wer darf in diesem ganzen Trubel des Wahns natürlich nicht fehlen? Oberschwurbler Hans-Georg Maaßen, der sich mal wieder ganz besonders schlau vorkommt: „Das Leben ist voller Zufälle, aber es gibt weniger als wir denken“, schrieb er.
Auffällig ist das extreme Kurzzeitgedächtnis dieser Verschwörer: Seit Beginn der Corona-Pandemie teilen die „Bild“ und ihr Frontmann Reichelt gegen die Regierung aus – Merkel und Spahn werden regelmäßig auf der Titelseite und auf Bild.de auseinander genommen. Dessen ungeachtet haben Regierungsmitglieder und Abgeordnete weiter Einladungen zu Interviews und Gesprächen im Axel-Springer-Haus angenommen. Sollten sich die Politiker geärgert haben, so scheint ihr Zorn rasch verflogen zu sein. Reichelt ist stets unangetastet geblieben.
Dass sich die Twitter-Verschwörer um die Freiheit der Presse sorgen ist süß. Doch es zeigt auch, wie wahnsinnig realitätsfremd sie sind. Die Presse in Deutschland ist frei – das steht im Grundgesetz. Deshalb darf auch eine „Bild“ gegen jeden und alles derart heftig austeilen. Dass Reichelt sich nun dem Compliance-Verfahren stellen muss, hat mit seinen Regierungsattacken allerdings absolut nichts zu tun. Sondern nur mit den Vorwürfen der Menschen, die sich von ihm gemobbt und genötigt fühlten. Daher keine Angst, ihr kleinen Rabauken: Julian Reichelt wird Merkel in der „Bild“ weiter kritisieren können – außer, wenn sich die Vorwürfe gegen ihn erhärten. Dann findet sich ein anderer.