„Verfehlte Corona-Politik“: Wissenschaftler kritisieren Pandemie-Management
Die Vorwürfe im Papier haben es in sich: Falsche Grenzwerte, ein nutzloser Teil-Lockdown, schlechte Meldestatistiken und eine negative Krisenkommunikation. Ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern kritisiert die Politik und ihr Corona-Management hart.
Das Thesenpapier, das unmittelbar vor dem nächsten großen Corona-Gipfel am Mittwoch veröffentlicht wurde, lässt kein gutes Haar an der Pandemie-Politik von Bund und Ländern. Schon in der Vergangenheit hatte die Autorengruppe, zu der auch der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel gehört, immer wieder öffentlich Kritik geäußert. Vehement streitet sie für einen Strategiewechsel, der laut Papier „unvermeidlich“ sei. Daten aus dem In- und Ausland legten nahe, dass die zweite Welle nicht mehr gebrochen werden könne, die derzeitige Politik sei verfehlt. Doch was stört die Wissenschaftler genau? Eine Übersicht:
Verfehlte Corona-Politik: Püschel und Co. kritisieren Pandemie-Management
Corona-Kennzahlen: Der vom Robert-Koch-Institut und der Politik genutzte Inzidenzwert sei nutzlos für politische Entscheidungen und vermittle ein falsches Bild, so die Gruppe. Aufgrund der hohen Dunkelziffer der Infektionen, die Autoren gehen von einer bis zu sechs Mal höheren Zahl aus, sei es derzeit unmöglich, repräsentative Meldungen abzugeben. Der formulierte Grenzwert „50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen“ sei vor dem Hintergrund von Inzidenzwerten rund um 150 deutschlandweit völlig außer Reichweite geraten. Alternativ schlagen die Wissenschaftler zwei andere Indizes vor: Der „notification index“ (NI) soll mehrere Faktoren berücksichtigen. Darunter die Melderate, Testpositivitätsrate, Zahl der Tests sowie die Heterogenität der auftretenden Fälle (also eine unterschiedliche Gewichtung von im Vergleich leichter zu isolierenden Herdenausbrüchen und Einzelfällen). Damit könne die Dynamik der Epidemie besser kontrolliert werden. Zur Analyse der Belastung des Gesundheitssystems schlagen sie wiederum einen „Hospitalisierungs-Index“ (NI mal Hosptialisierungsrate) vor.
Teil-Lockdown: Laut den Wissenschaftlern ist vom Teil-Lockdown im November kaum eine signifikante Wirkung zu erwarten. Ein Brechen der Welle würde durch die ergriffenen Maßnahmen nicht funktionieren. Die Zahlen würden zwar temporär ein wenig abflachen, aber die Annahme, dass „ein Zurück auf Zahlen wie im August erreicht werden kann, entbehrt jeder Grundlage.“ Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass viele Menschen asymptotische Krankheitsverläufe hätten und unwissend andere ansteckten, sei eine Strategie, die vor allem auf Nachverfolgung setze, kaum wirksam. „Es ist Augenwischerei, dass man das Gesamtproblem erfasst hat, bevor die Immunität erreicht ist“, sagte Rechtsmediziner Klaus Püschel der MOPO.
Risikopatienten werden nicht ausreichend geschützt
Risikopatienten: Die Autoren appellieren für eine neue Schwerpunktsetzung in der Pandemiebekämpfung. So sollte sich neben den Kontaktbeschränkungen vor allem auf Risikopatienten, gerade ältere Menschen, konzentriert werden, was derzeit in ihren Augen nicht passiere. Die derzeitige Strategie berge die Gefahr einer weitgehenden Durchseuchung der Bevölkerung, was zu einer „kalten Herdenimmunität“ führe, ohne Rücksicht auf verletzliche Gruppen. Dabei fordere man keine völlige Isolation beispielsweise von Menschen in Pflegeheimen, so Püschel. „Es braucht eine optimale, engmaschige Kontrolle für Besucher und Pflegekräfte“, so der Rechtsmediziner. Eine entscheidende Rolle könnten dabei Antigentests spielen, die vor jedem Kontakt mit Risikogruppen zum Einsatz kommen könnten.
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Krisenkommunikation: Die Bevölkerung müsse ehrlich darauf hingewiesen werden, dass das Virus nicht einfach durch den ein oder anderen Teil-Lockdown verschwinde, kritisiert Püschel. Laut Papier würden außerdem positive Nachrichten kaum kommuniziert, Horror-Szenarien überschatteten die öffentliche Kommunikation. Dabei sei jedoch durchaus Positives zu vermelden. Die Mortalitätsrate sei seit Ausbruch der Pandemie deutlich gesunken, die Hospitalisierungsrate sinke beziehungsweise stabilisiere sich und auch die Beatmungsrate sei rückläufig. Zu einer modernen Risikokommunikation gehöre eben auch das Hervorheben von positiven Entwicklungen.
Situation auf den Intensivstationen angespannt
Kritische Situation auf den Intensivstationen: Mit Sorge verfolgen die Wissenschaftler die Situation auf den Intensivstationen des Landes. Zum einen würde die Zahl der Intensivpatienten derzeit deutlich ansteigen, zum anderen würde aber die Gesamtkapazität an Intensivbetten abnehmen. Püschel mutmaßt, dass zwar viele Beatmungsgeräte zur Verfügung stünden, es aber schlichtweg an Personal zur Ausschöpfung der Intensivkapazitäten mangele.
Auf die Kritik, dass der Autorenzusammenschluss keine Virologen enthalte, hält Mitautor und Infektiologe Prof. Matthias Schrappe im ZDF entgegen: „Virologen, die versuchen die Epidemie unter dem Mikroskop zu bekämpfen, können die Sache nicht beherrschen. Es muss Leute geben, die aus verschiedensten Perspektiven heraus die Sache in die Hand nehmen, so haben wir unsere Gruppe zusammengesetzt. Eine Epidemie ist nie nur eine Angelegenheit von Virologen oder Epidemiologen.“ (fkm)