Auszeit in Hamburg: Die eigene Stadt als Urlaubs-Traum
Das „Hotel Vier Jahreszeiten“ an der Alster.
Foto: picture alliance / Christian Cha
Urlaub in der eigenen Stadt. Geht das? Ja, und wie! Bestseller-Autor Michel Ruge („Bordsteinkönig“) und seine Frau Anni waren drei Tage lang als Touristen in ihrer Heimat Hamburg unterwegs und stellen hier ihre Highlights vom Städtetrip vor der eigenen Haustür vor.
Längst schon wollten wir in Italien sein, wenn uns da nicht die Pandemie ausgebremst hätte. Nun ist immer noch nicht sicher, wann wir im Olivenhain sitzen können, und deshalb haben wir beschlossen, Urlaub in unserer eigenen Stadt zu machen.
Urlaub in Hamburg: Die eigene Stadt neu entdecken
Vor uns liegt Hamburg und wartet darauf, von uns mit allen Sinnen entdeckt zu werden: Wir sind Touristen in der Heimat, neugierig und tatsächlich ein bisschen aufgeregt. Jetzt wollen wir Gas geben. Sprichwörtlich. Anni hat nämlich ein bisschen Benzin im Blut (ihr Vater hat Oldtimer restauriert) und sie ist schon mal ein Rennen quer durchs Baltikum gefahren.
Dabei hat sie sich unsterblich verliebt. In das Auto natürlich, denn wir kannten uns da ja noch nicht. Und so wartet am Bordstein vor dem Haus ein in tiefem Saphirblau schimmerndes Bentley Continental GT-Cabriolet, in dem wir die kommenden Tage die Stadt durchkreuzen.
Als Tourist in Hamburg: Handgemachtes aus Liebe
Als armer Schriftsteller, der ich bin, bin ich in letzter Zeit selten in so einem Auto durch meine Stadt gefahren. Jetzt aber will ich raus aus der Warteschleife, in der uns die Pandemie gefangen hielt, will das komplette Gegenteil leben und den Entbehrungen der vergangenen Wochen das pralle Leben entgegensetzen.
Und ich meine damit nicht das stumpfe Konsumieren von Luxus, sondern das Genießen der wirklich schönen Dinge: kein Auto von der Stange, das von Robotern zusammengeschraubt wird, kein Convenience Food und kein gewinnmaximiertes Zuhause auf Zeit.
Ich will das Echte, das Handgemachte. Dinge, auf die sich die Liebe der Menschen, die sie hergestellt haben, übertragen hat. Das ist meine Definition von Luxus. Status interessiert mich nicht. Ich will meine Sinne wachrütteln und da geht nur Entweder-Oder, Barfuß oder Lackschuh.
Im Bentley-Cabrio über die Reeperbahn
Also schweben wir in unserem schillernden Kokon über die noch touristenleere Reeperbahn, und ich könnte direkt in den Bentley einziehen, der wie selbstverständlich vor den imposanten Eingang der altehrwürdigen Dame, das „Hotel Vier Jahreszeiten“, rollt.
Ein Freund erzählte erst neulich, dass der Inhaber das Kurzarbeitergeld aller Angestellten zu einhundert Prozent aufgestockt hat. Das finde ich bemerkenswert. Und beim Einchecken erzählt uns eine Mitarbeiterin, wie es war, als der Betrieb im April eingestellt wurde: „Es war ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass das Hotel zum ersten Mal nach 123 Jahren seine Türen schließt. Nie hatte das Haus geschlossen, selbst während der Weltkriege herrschte Betrieb.“
Traum-Urlaub im „Hotel Vier Jahreszeiten“
Ruhig war es während der zweimonatigen Zwangspause dennoch nicht, denn das gesamte Team hat die Ärmel hochgekrempelt. „Wir haben den Dachboden entrümpelt, gestrichen und das Archiv geordnet, immer im Vertrauen darauf, dass es weitergehen wird. Diese Zeit hat uns einander nähergebracht und das ist schön“, erzählt sie.
Tatsächlich spüren wir im ganzen Haus die Fröhlichkeit. Auch wir sind fröhlich, als wir die Tür zu unserem Zimmer im 5. Stock öffnen. Große Fenster mit einem Balkon davor geben den Blick frei auf die Binnenalster. Sie glitzert wie eine riesige geöffnete Schatztruhe.
Hamburg ruft: „Ich habe euch so viel zu zeigen!“
Jetzt sind wir mittendrin und doch so weit weg von allem, was uns die letzten Wochen nicht zur Ruhe kommen ließ. Jetzt fühle ich mich sicher. Es sind dieselben Möwen, die mich morgens auf St. Pauli mit ihrem Kreischen wecken, aber ich nehme sie hier ganz anders wahr. Sie ziehen dicht über unsere Köpfe und es ist, als würde Hamburg uns zurufen: „Los, raus jetzt! Ich habe euch so viel zu zeigen!“ Im mit bernsteinfarbenem Holz ausgekleideten Fahrstuhl fallen mir die Details auf und ich bin versucht, die glatten Oberflächen des Innenraums zu streicheln. Anzufassen. Weil ich alles spüren will. Aufnehmen will.
Ein Blick hinter die Kulissen: Hamburgs ältester Caviarhändler
Wir schreiten durch die Lobby ins Sonnenlicht – Zeit, das Verdeck aufzumachen und sich beim Fahren durch die Stadt die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Sanft gleiten wir über das Kopfsteinpflaster der Großen Elbstraße, und weil ich lieber cruise als rase, nehmen wir zum ersten Mal das große runde Schild auf dem stählernen Tor von Hausnummer 210 wahr. „Caviar“ steht da in riesigen Lettern und darunter schwimmt ein Fisch. Ich will hinter die Tür gucken.
Hinter der verbirgt sich Dieckmann & Hansen, das älteste Caviarhandelshaus der Welt. Es ist kalt hier, aber die Mitarbeiter erzählen so warmherzig, dass uns das egal ist. Wir lernen, dass es mindestens 25 Jahre dauert, bevor ein Stör den Rogen liefert, den es für die Herstellung von Kaviar braucht. So lange will ich nicht warten, also wäre eine eigene Zucht schon mal nichts für mich. Ich bin begeistert und frage mich, warum das „schwarze Gold“ nur dem Adel und James Bond vorbehalten sein sollte? Schließlich bin ich ein waschechter Hamburger Jung, weshalb mir der weltmännische und exzellente Geschmack angeboren ist!
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Tja, und deshalb verlassen wir diesen magischen Ort mit einem Viertel Kilo Kaviar. Das ist ein Stück lebendige Hamburger Geschichte, die wir unbedingt essen wollen. Mit allen Sinnen – das war schließlich unser Plan.
Speisen im Restaurant „Hamburg Corner“
Kurz darauf machen wir eine weitere wirkliche Entdeckung: Ecke Clemens-Schultz- und Rendsburger Straße ist im Erdgeschoss ein Restaurant eingezogen, das „HACO“. Das, so lernen wir später, ist die Abkürzung für Hamburg Corner. Keine Frage, da müssen wir rein. Hier auf St. Pauli, wo man wegen der Kioske und billigen Saufläden wohl eher die Verflachung der Gastronomie vermuten würde, erwartet uns das genaue Gegenteil.
Schon beim Eintreten spüren wir, dass uns etwas Außergewöhnliches erwartet. Küchenchef und Inhaber Björn Juhnke begrüßt uns und schlägt vor, den Aperitif draußen in der Abendsonne zu trinken. Wir sagen nicht nein und werfen dabei schon mal hungrig einen Blick auf die Speisekarte, auf der lediglich die Hauptzutaten abgebildet sind – liebevoll illustriert.
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Einziger Hinweis auf die Zubereitung von Spargel, Spitzpaprika, Fenchel, Hummer oder Schwein ist die Überschrift: „Where there’s smoke there’s flavour“, also wo Rauch ist, da ist Geschmack. Und tatsächlich nehmen wir nach dem Sundowner am Tisch vor dem Tresen zur offenen Küche Platz, deren Herzstück ein großer Steinofen ist. Über offenem Feuer garen die Zutaten und entfalten köstliche Gerüche.
Kulinarische Besonderheiten und neue Welten
Draußen braut sich ein Gewitter zusammen und wir fühlen uns so nah am Ofen wohl und geborgen. Wir haben Zeit. Die nächsten zwei Stunden navigiert uns Björn Juhnke, der, das erfahren wir im Laufe des Abends, unter anderem in St. Moritz, in Sterne-Restaurants von Gordon Ramsay in London und Prag am Herd stand, Küchenchef im „Intercontinental“ in Hamburg, im „Ceres“, im Restaurant „Negro“ auf Rügen war und im „Kempinski Bratislava“, durch seinen kulinarischen Kosmos.
Wir probieren neue Welten: fermentierten Spargel und dänischen Hummer, wobei bei jedem der zwölf Gänge stets der Eigengeschmack der Hauptzutat im Mittelpunkt steht. Denen verleiht Juhnke einen so überraschenden Twist, dass wir aus dem Staunen nicht herauskommen.
Lackschuh-Modus auf St. Pauli
Immer wenn Anni und ich im Lackschuh-Modus sind, spielt gutes Essen eine wichtige Rolle. Deshalb sind wir noch lange keine professionellen Gastrokritiker, aber in dem einen oder anderen namhaften Restaurant hat unser Gaumen schon ein bisschen was erlebt. Allerdings nichts, was mit dem hier vergleichbar wäre.
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Selten habe ich die Liebe auf der Zunge gehabt, außer natürlich, wenn Anni kocht. Und ich freue mich nicht nur über das wunderbare Essen, sondern auch darüber, dass Björn Juhnke dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, etwas zurückgibt, was es unterwegs verloren hat. Denn einst gab es viele ausgezeichnete Restaurants auf St. Pauli. Und gerade weil Fischbrötchen- und Pommesbude und Spitzengastronomie Hand in Hand gingen, war es hier bunt und aufregend. So etwas wie das „HACO“ hat es hier allerdings noch nicht gegeben, ich wage zu behaupten, dass es das beste Restaurant ist, das es auf St. Pauli je gab.
Den Abend an der Bar ausklingen lassen
Über die regennassen Straßen brausen wir unter einem dramatischen Himmel zurück ins Hotel. Aufgekratzt. Müde. Zufrieden. Ein letzter Blick auf die Alster. Bewacht von der altehrwürdigen Dame schlafen wir ein. Wachen auf mit Bärenhunger. Gestern waren wir den ganzen Tag unterwegs, heute will ich Anni mehr vom schönen Hotel zeigen, in dem ich schon das ein oder andere Mal übernachtet habe und dessen Bar ich besonders schätze. Vor allem für einen hervorragenden Gimlet, am besten gemixt von Barkeeper Andreas Ruks.
Frühstück im „Café Condi“
Für Alkohol ist es noch zu früh, denn wir sind frühe Vögel und daher fast die Ersten beim Frühstück im „Café Condi“. Das gehört zum „Vier Jahreszeiten“ wie die schweren alten Schlüsselanhänger aus Messing, die hier hoffentlich niemals durch häßliche Plastikkarten ersetzt werden. Den echten Hamburger, wenn es den überhaupt gibt, erkennt man daran, dass er nicht „ins Condi“, sondern „in die Condi“ geht.
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Hier leckt sich die feine Gesellschaft seit 1934 die Finger nach Kuchen, Pralinen und Eiscreme, die auf dem „Heuboden“ serviert werden. Die Etage heißt bis heute so, weil früher im Erdgeschoss darunter die Pferde der Gäste versorgt wurden. Heute Morgen werde ich mit Eggs Benedict verpflegt, während Anni ein Brötchen mit den Händen aufreißt. Die Kruste kracht und wird schließlich unter einem Berg Butter und Himbeermarmelade begraben. Sie ist, ganz klar, immer noch in Lackschuh-Laune.
Hamburg genießen mit Champagner und Caviar
So ein Frühstück ist eine gute Grundlage und weil wir nicht vorhaben, unser schönes Zimmer auf der 5. Etage die nächsten Stunden zu verlassen, knallt in Zimmer 510 noch vor 12 Uhr der Korken. Was soll’s, wir sind schließlich im Urlaub. Da ich außer Gimlet nur Champagner trinke, habe ich eine Überraschung für Anni. Mir ist es tatsächlich gelungen, unseren Honeymoon-Schampus aus Paris zu organisieren, in dessen Rausch meine Frau einen ganzen Geburtstagskuchen verspeist hat. Meinen. Er soll sehr gut geschmeckt haben.
Voller Liebe war auch der Champagner, den unsere Gastgeber spendiert haben. Alfred Gratien stellt in überschaubaren Mengen einen hierzulande eher unbekannten Tropfen her, der nicht in jedem Regal zu finden ist und der so elegant an den großen Marken vorbeizieht wie unser Bentley an einer Premium-Karre mit offenen Auspuffklappen. Barfuß zelebrieren wir das Lackschuh-Leben auf dem Balkon. Genießen zu einem Glas Champagner ein paar Löffel Kaviar. Auf einer dick mit Butter bestrichenen Scheibe Weißbrot. Heute ist das Leben ein Canapé und keine Käsestulle.
Leben zwischen St. Pauli und Neustadt
Und während wir so sitzen, denken wir, dass so ein Perspektivenwechsel auch in die andere Richtung ein Gewinn ist. Dass die Menschen, deren Alltag das hier ist, auch am anderen Ende der Skala etwas gewinnen können. Denn auf St. Pauli gibt es ebenfalls viel zu entdecken, von der urigen Kneipe bis zum hervorragenden Restaurant. Und so wäre es schön, wenn die Grenzen zwischen den Stadtteilen wieder durchlässiger werden, wir einander neu entdecken und uns als Hamburger begegnen.
Denn nur, wenn wir die Polarität im Leben spüren, spüren wir es überhaupt. So, wie wir im Erleben dieser besonderen Momente eine Facette wahrnehmen. Und je mehr es davon gibt, umso mehr leuchtet das Leben. Ist wie bei Diamanten.
Urlaub in der Heimat: Die Perspektive wechseln
Die nächsten Stunden wiegt uns die altehrwürdige Dame durch den Vormittag und wir verschmelzen mit der sonntäglichen Trägheit. Fließen durch die Zeit, wachen, schlafen. Wir treiben zurück in die 1920er Jahre, denn genau dieses Flair verströmt der Grill im Erdgeschoss des Hotels, in dem seit 1926 hanseatische Klassiker serviert werden.
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Bevor unsere vom Champagner ganz leicht gewordenen Köpfe abheben, brauchen wir etwas Handfestes im Bauch. Ein hervorragendes Tatar, saftig, salzig, sauer, würzig treibt uns das Blut zurück in Gehirn. Die knusprigen Fritten tauchen wir mit den Händen in Ketchup und Mayo, und Maître Darius Wieczorek nickt uns wohlwollend zu.
Manchmal muss man die Dinge einfach in die Hand nehmen. So wie jetzt. Egal, welches Restaurant wir besuchen, welches Café oder welche Bar. Egal, ob wir im 5-Sterne-Hotel oder im Hostel übernachten – es geht um den Perspektivenwechsel. Und wenn wir unserer Stadt damit auch noch frischen Wind unter die Flügel pusten, dann geht es für alle bald wieder aufwärts.