Nach Lockdown-Ende: Freie Bahn für Mutanten: Italien schlittert ins Corona-Chaos
Rom –
Wie gefährlich sind die Corona-Mutationen? Und was passiert, wenn sie sich nahezu unkontrolliert ausbreiten? Das kann man gerade sehr gut in Italien beobachten: Vor Kurzem hob die Regierung den landesweiten Lockdown auf. Vielerorts ist die Lage jetzt dramatisch.
Die Intensivstationen voll, die Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger völlig überarbeitet: Was sich derzeit in vielen italienischen Städten abspielt, erinnert so manch einen an den Horror der ersten Corona-Welle im vergangenen Frühjahr. Einige finden sogar: „Es ist noch schlimmer“ – etwa Andrea Zanoni, Direktor der Reanimationsabteilung im Krankenhaus Sant’Orsola im norditalienischen Bologna. „Meine Station ist voll“, sagte er zur Zeitung „Il Fatto Quotidiano“.
Covid-19 verläuft bei Mutationen schneller und aggressiver
Was Zanoni und anderen Ärztinnen und Ärzten an vorderster Front vor allem Sorgen macht, sind die neuen Corona-Varianten – vor allem die britische. Sie sei nicht nur ansteckender, sondern womöglich auch gefährlicher für den Körper. „Im Vergleich zur ersten Welle ist das Durchschnittsalter gesunken. Jetzt müssen wir Menschen im Alter von 50 oder 60 Jahren ohne irgendwelche Vorerkrankungen intubieren“, sagte Zanoni zum „Fatto Quotidiano“.
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Auch der Krankheitsverlauf an sich habe sich durch die Mutationen verändert. „Die Symptome verschlechtern sich innerhalb kurzer Zeit“, Covid-19 verlaufe bei den Patienten nun schneller und aggressiver, erklärte Daniela Di Luca, Leiterin der Intensivstation des Sant’Orsola-Krankenhauses.
Italien hob erst vor Kurzem den landesweiten Lockdown auf
Allein am Donnerstag verzeichnete Italien knapp 23.000 neue Corona-Fälle – so viele wie noch nie seit Jahresbeginn. 339 Menschen starben an oder mit Covid-19. Neben dem Großraum Neapel ist vor allem die Region Lombardei von rasant steigenden Zahlen betroffen – erneut! Auch in Rom sind die Behörden alarmiert, dort frisst sich B.1.1.7 aus Großbritannien rasend schnell vor allem durch die nördlichen Stadtteile.
Erst vor gut drei Wochen hatte die Regierung die meisten Corona-Maßnahmen landesweit aufgehoben. Bars und Restaurants durften wieder öffnen, die Menschen konnten wieder inneritalienische Reisen unternehmen, Jugendliche und Kinder kehrten zurück an die Schule. Experten warnten schon damals: Das ist ein Spiel mit dem Feuer!
Denn die Öffnung fiel vom Timing her zusammen mit einer beginnenden Ausbreitung der Corona-Mutationen. Neben der britischen macht den Offiziellen auch die brasilianische Variante große Sorgen. Sie brachte Kliniken etwa in Perugia oder Brescia bereits an den Rande des Zusammenbruchs.
Briten-Mutante infiziert ganze Familien
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Mutationen in Italien ausbreiten, überrascht selbst Experten. Pier Luigi Bartoletti, der die regionale Gesundheitsbehörde im Latium, zu dem auch Rom gehört, leitet, sagte zur Zeitung „Il Messagero“: „Die britische Variante ist viel aggressiver. Im Vergleich zur Vergangenheit stellen wir zum Beispiel fest, dass sich alle Mitglieder einer Familie infizieren“, sobald es einen Positivfall in dieser Familie gebe. Eine geringere Menge an Viren reiche mittlerweile aus, andere anzustecken – das sei bei der Ursprungsvariante anders gewesen.
Das bestätigte auch Massimo Galli, Spezialist für Infektionskrankheiten am Luigi-Sacco-Krankenhaus in Mailand, im Interview mit dem Sender „La 7“: „Die Mutationen können sogar in einer Entfernung von mehr als 1,5 Meter noch zu Ansteckungen führen.“
Das ganze Land zurück im Lockdown?
Erste Regionen haben reagiert und sind zurück in den Lockdown gegangen – teilweise in Rekordtempo. Buchstäblich über Nacht hat etwa die Lombardei wieder die Schulen geschlossen. Spielplätze und Parks sind zu, das Verlassen der eigenen Gemeinde nur mit Ausnahmegenehmigung möglich. Ein Schritt, der auch für den Rest des Landes immer wahrscheinlicher wird. Zu sprunghaft steigen die Zahlen allüberall an.
Italienweit meldeten die Gesundheitsbehörden zuletzt innerhalb einer Woche eine Zunahme der Neuinfektionen von knapp 32 Prozent. In einigen Regionen, etwa in Venetien und im Piemont, haben sie sich mehr als verdoppelt (59 Prozent). Landesweit hat sich die Zahl der Krankenhauseinweisungen im gleichen Zeitraum verdreifacht.
Gesundheitsminister Roberto Speranza warnte am Donnerstag: Die Intensivstationen stünden vielerorts vor dem Kollaps. Auch er brachte einen erneuten, landesweiten Lockdown ins Spiel, sollten die Zahlen weiter steigen. „Die nächsten 15 Tage werden entscheidend sein.“