Streit um Schul-Öffnungen: Bei der Bildung kriegt Deutschland die Note 6
165 anstatt 200: Die Inzidenzgrenze, ab der die Schulen schließen müssen, wurde im neuesten Gesetzentwurf von Union und SPD gesenkt. Hamburgs Schulsenator findet das im Vergleich nicht richtig. Der Deutsche Lehrverband hätte lieber eine niedrigere Grenze. Parallel zeigt eine Studie, wie groß das Bildungs-Desaster durch Schulschließungen in Deutschland wirklich ist.
„Ich bin sehr enttäuscht: Schulschließungen werden noch weiter verschärft, aber die Ausgangssperren für Erwachsene gemildert“, sagte Ties Rabe (SPD) der MOPO. „Kinder werden aus der Schule ausgesperrt, damit Erwachsene abends länger unterwegs sein können. Das passiert, wenn der Bundestag Schulpolitik macht.“
Corona: Neue Inzidenz-Grenze für Schulschließungen
Im neuen Entwurf für ein Gesetz zur Durchsetzung einer bundesweiten Notbremse sollen Schulen schon ab einer Inzidenz von 165 an drei aufeinanderfolgenden Tagen schließen. Ursprünglich sollte dieser Schwellenwert so wie aktuell in Hamburg bei 200 liegen.
Derzeit gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern. So gibt es zum Beispiel in Bayern Distanzunterricht ab Inzidenzwerten von 100 in einem Landkreis oder einer Stadt. Ausgangsbeschränkungen sind im Entwurf zwischen 22 Uhr und 5 Uhr vorgesehen – eine Stunde später als zunächst geplant.
Schulschließungen: SPD und Union verteidigen 165er Wert
Man gehe davon aus, dass das Infektionsgeschehen an Schulen unterhalb dieser Schwelle durch regelmäßiges Testen kontrollierbar bleibe, heißt es in einem Schreiben unter anderem der CDU/CSU-Gesundheits- und Rechtspolitiker an die Mitglieder der Unionsfraktion im Bund.
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Dirk Wiese, stellvertretender SPD-Fraktionschef im Bundestag sagte, über den Schwellenwert sei lange debattiert worden. „Letztendlich resultiert die 165 daraus, dass am Montag der Durchschnittswert aller 16 Bundesländer beim Inzidenzwert bei ungefähr 165 lag.“
CDU-Mann: Unterricht auch nach draußen verlagern
„Die Idee war es, Kitas und Schulen durch weitere Verschärfungen wie täglichen Tests oder Änderungen der Unterrichtsformen so lange wie möglich offen zu halten, bevor eine starre Inzidenz greift“, sagt der Hamburger Marcus Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der MOPO, nach der Änderung des Entwurfs am Montag. Die Pandemie sei für Kinder und Jugendliche auch psychisch eine starke Belastung. „Daher haben wir uns auf eine Inzidenz von 165 geeinigt“, so Weinberg.
Er und andere Politiker hatten zuvor vorgeschlagen, Unterrichtsstunden auch nach draußen zu verlegen. „Ich bin ja selbst Lehrer und habe früher einige Jahre unterrichtet“, so Weinberg. Er findet, dass Lehrkräfte grundsätzlich schon jetzt versuchen sollten, „bei wetterbedingten Möglichkeiten Unterrichtsstunden nach draußen zu verlagern.“ Dies vermindere das Ansteckungsrisiko und setze neue Impulse.
Schulinzidenz: Kritik vom Lehrerverband
Scharfe Kritik an diesen Vorschlägen hatte es von Seiten des Deutschen Lehrerverbands gegeben. Wer tatsächlich meine, man könne Schulen auch bei hohen Inzidenzen weiter offen halten, indem man den Unterricht ins Freie verlagert, habe vom Schulbetrieb „wenig Ahnung, um nicht zu sagen keinen blassen Dunst“, sagte Präsident Heinz-Peter Meidinger.
Der Verband hat auch Kritik an der Inzidenz von 165, sie sei deutlich zu hoch. „Um eine Ausbreitung des Virus in den Schulen wirksam zu stoppen, muss der Präsenzunterricht bereits ab einer Inzidenz von 100 beendet werden“, forderte Meidinger.
Hamburger Schulbehörde hofft auf Beratungen
In Hamburg sinkt die Inzidenz zwar seit einigen Tagen, ist aber weiter auf einem hohen Niveau. Am Dienstag lag sie bei 134,4. Die Ausgangsbeschränkungen gelten schon ab 21 Uhr. Eine Verständigung über das Gesetz sei noch nicht abgeschlossen, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer am Dienstag.
Mittwoch will der Bundestag hierzu beraten und das Gesetz beschließen. „Wir hoffen darauf, dass es im Laufe der Beratungen noch zu Änderungen kommen wird und die ursprünglich vorgesehene Inzidenzschwelle von 200 beschlossen wird“, hieß es am Dienstag auf MOPO-Nachfrage aus der Schulbehörde. Vom Senat gab es zum Thema Schulen keine klare Antwort.
Hamburger Senat könnte Kurs beibehalten
Er wird in der kommenden Woche über eine Änderung der Regeln in der Stadt beraten. Einiges deutet darauf hin, dass Hamburg zumindest in Bezug auf die Ausgangsbeschränkungen den Kurs beibehalten könnte.
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Im Gesetzentwurf würden „Mindeststandards“ diskutiert, „von denen man abweichen kann, wenn man strengere Regeln einführt“, so Schweitzer. „Ihnen wird aufgefallen sein, dass wir strengere Regeln in Hamburg haben.“
Eltern-Protest vor Hamburger Rathaus
Einige Eltern und Schüler protestierten am Dienstagnachmittag vor dem Hamburger Rathaus für die Schulöffnung aller Klassen. Sie hielten Plakate hoch mit Forderungen wie „Alle Lehrer impfen. Sofort.“ oder „Wechselunterricht für Alle“. Die Demo war nicht angemeldet.
Aktuell haben in Hamburg nur die Schüler der Grund- und Sonderschulen, die Klassenstufen 9, 10 und 13 der Stadtteilschulen, die Klassenstufen 6, 10 und 12 der Gymnasien sowie die Abschlussklassen der beruflichen Bildungsgänge einen Wechselunterricht. Für die übrigen Klassen gibt es weiterhin Distanzunterricht.
Neue Studie: Das machen Schulschließungen mit Kindern
Die Schulschließungen zu Jahresbeginn haben bei Kindern und Jugendlichen nach einer Untersuchung des Ifo-Instituts tiefe Spuren hinterlassen. Statt 7,4 Stunden Lernen täglich waren es nur noch 4,3, wie das Münchner Institut am Dienstag mitteilte. Das ist zwar etwas mehr als im ersten Lockdown, doch immer noch weniger Zeit als sie mit Computerspielen, sozialen Netzwerken oder ihrem Handy verbrachten.
„Besonders bedenklich ist, dass 23 Prozent der Kinder sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit der Schule beschäftigt haben“, sagte der Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, Ludger Wößmann. „Die Corona-Krise ist eine extreme Belastung für die Lernentwicklung und die soziale Situation vieler Kinder.“
Kritik an Schulpolitik in Deutschland
Die Forscher stellen der Schulpolitik in ihrer Studie kein gutes Zeugnis aus. Auch mit „langer Vorlaufzeit und nach eindringlichen Appellen von Eltern und Wissenschaft“ sei es nicht gelungen, eine angemessene Beschulung aller Kinder im Distanzunterricht sicherzustellen.
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Dass nur eines von vier Kindern täglichen Onlineunterricht bekomme, sei enttäuschend, sagte Wößmann. Er forderte, dies so schnell wie möglich allen Kindern zugänglich zu machen. Man müsse allen Schulen, die den Onlineunterricht hinbekämen, dankbar sein, betonte er. „Aber eigentlich wäre es eine politische Aufgabe.“